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Weiße Männer mit Gewehren

Auch nach dem Grundschul-Massaker blockiert der US-Kongress schärfere Waffenkontrollen

Von Reiner Oschmann *

Gut hundert Tage sind seit dem Amoklauf an der Sandy Hook-Grundschule von Newtown, Connecticut, vergangen. Die Bedenkzeit, die sich die USA nach der Ermordung von 20 Schulkindern zwischen sechs und sieben Jahren durch einen schwerbewaffneten jungen Mann verordnet hatten, endete an diesem Mittwoch mit einer Demonstration der Feigheit im Kongress, mit einem Präsidenten, dem seine Ohnmacht vorgeführt wird und mit einer Waffenlobby, die faktisch auf ganzer Linie siegt. Ein zuletzt mühsam ausgehandelter, bescheidener Kompromiss zur Verschärfung der weltweit zahnlosesten Schusswaffengesetze verfehlte im Senat die nötige Mehrheit von 60 der 100 Senatoren. Der Kompromiss hatte eine strengere Überprüfung von Waffenkäufern fixieren wollen. Für solche Hintergrund-Checks stimmten 54 Senatoren, 46 – darunter vier Gesetzgeber von Obamas Demokraten – lehnten sie ab. Der Präsident sprach am selben Abend im Rosengarten des Weißen Hauses, umgeben von Familienangehörigen der Opfer von Newtown, von einem „beschämenden Tag für Washington“.

Wie wahr: Auch 20 tote Grundschüler konnten der Debatte keine neue Richtung geben. Das Umdenken im Land mit den meisten Schusswaffen endet vorerst mit einer weiteren Demütigung Barack Obamas, der Greifbares zur Eindämmung dieser amerikanischen Geißel tun wollte, und mit einem Triumph der Waffenindustrie und Waffenvermarkter. Stattdessen erschoss die Waffenlobby die Opfer des Amoklaufs ein zweites Mal. Die Senatoren lassen sich von der Waffenlobby einschüchtern

Die von Vizepräsident Biden nach dem Amoklauf erarbeiteten Vorschläge hatten vernünftige Ansätze gesucht. Doch sie wurden entweder gleich wieder beerdigt, standen schnell vor ihrer Preisgabe oder aber vor harmlosen Neufassungen. Im Kern betrafen sie vier Vorhaben: Erstens ein Verbot von Sturmgewehren und zweitens von Schnellfeuermagazinen mit großem Fassungsvermögen. Beides galt als politisch nicht durchsetzbar. Der Widerstand kam sowohl von den Republikanern als auch von Obamas Demokraten, namentlich aus ländlichen Bundesstaaten, deren Bevölkerung viele Waffen besitzt. Drittens zielten die Vorschläge auf umfassendere Hintergrundkontrollen für Waffenkäufe, viertens darauf, privaten Weiterverkauf von „guns“ zum Bundesstraftatbestand zu erheben. Obgleich die Hintergrundkontrollen beim Waffenkauf in Umfragen von 90 Prozent der Amerikaner nach dem Massaker gefordert wird, entzogen sich die Senatoren nun einem gesetzesreifen Entwurf.

Die NRA hatte Schlüsselsenatoren beider Parteien zuletzt massiv bearbeitet – das Resultat ist jetzt erkennbar. Die NRA mit ihren bald fünf Millionen behielt „wie gewohnt“ die Oberhand. Nun ist nicht mal ausgeschlossen, dass „Bundesstaaten bald ihre Waffenregelungen abschwächen, um mehr Schusswaffen in Schulen zu erlauben“, wie die „Washington Post“ vor der Mittwochabstimmung befürchtete. Letzteres ist eine Hauptforderung der NRA nach Newtown – nicht Schritte zu weniger Waffen, sondern Bewaffnung von Lehrern und Hausmeistern. Die NRA bleibt sich und ihrer Logik treu: Mehr Todesfälle mit Schusswaffen und mehr Tote nach Amokläufen schreien nach mehr, nicht nach weniger Waffen.

Vor dem Hintergrund der jetzigen Debatte teilte John Lennons Witwe Yoko Ono (80) mit: „Wir verwandeln dieses schöne Land in ein Kriegsgebiet“ und fordert: „Lasst uns Amerika zusammen als grünes Land des Friedens zurückbringen!“ Seit Lennons Tod am 8. Dezember 1980 in New York verloren über eine Million (!) Menschen durch Schusswaffen ihr Leben.

Das "Kriegsgebiet" USA weist neben vielen Schrecklichkeiten eine wenig thematisierte kulturelle Besonderheit auf. Die Soziologinnen Charlotte und Harriet Childress fassen sie so zusammen: „Fast alle Massenamokläufe mit Schusswaffen in diesem Land wurden in den letzten Jahren – nicht nur in Newtown, Aurora, Fort Hood, Tucson und Columbine – von weißen Männern und Jungen verübt.“ Sie laden ihre Landsleute ein, sich vorzustellen, was passiert wäre, hätten Schwarze Monat für Monat Massenschießereien verübt. „Artikel würden die Medien überschwemmen, und wir hätten eine politische Diskussion mit der Forderung, die Afroamerikaner zur Rechenschaft zu ziehen.“ Doch da die Kriminellen und die Männer, die die Taten wortführend begleiten, Weiße sind, seien Hautfarbe und Geschlecht irrelevant. Stattdessen werde nur von Gesundheitsstörungen der Täter geredet. „Aber Frauen und Mädchen mit psychischen Störungen“, so Charlotte und Harriet Childress, „greifen nicht zu halbautomatischen Waffen und töten Schulkinder. Einwanderer mit psychischen Problemen verüben keine Massenschießereien in Kinos oder Einkaufszentren. Auch Latinos mit mentalen Störungen erschießen nicht laufend Fremde …“

Wäre das Leben gerecht, so die Soziologinnen, müssten sich weiße, männliche Befürworter laxer Schusswaffenrechte ernsten Fragen stellen: Welche Facetten der weißen Männerkultur sind es, die so viele Schusswaffen-Massaker erzeugen? Wieso vergnügen sich so viele weiße Männer mit Gewaltvideos? Warum kaufen, verkaufen und produzieren weiße Männer Gewehre und Pistolen aus Profitgründen, besuchen Waffenshows und demonstrieren ungleich mehr als Menschen anderer Hautfarbe für freien Zugang zu Schusswaffen? Schließlich: Wieso sind es weiße, männliche Parlamentarier, die die Schusswaffen-Kontrollen verhindern?

Die NRA bedrohte vor allem Senatoren und Abgeordneten, die zur Wiederwahl antreten, verstärkt mit Diffamierungskampagnen für den Fall ihrer Zustimmung zu „gun controls“. „Washington Post“-Kolumnist Dana Milbank schrieb, die Redewendung „er entwaffnet seine Kritiker“ gewinne aktuell völlig neue Bedeutung. Wegen ihrer Waffenverehrung ist die NRA oft Zielscheibe des Spotts. Doch über sie herzuziehen ist das Eine, das Andere ist ihre Macht. Als der Kongress 1994 ein auf zehn Jahre begrenztes Verbot von Sturmgewehren beschloss – eine Maßnahme, die es heute gar nicht mehr zur Abstimmung schaffte –, nahm die NRA 24 Abgeordnete ins Visier, die ihre Wiederwahl suchten. 19 verloren den Sitz. Kein Wunder, wenn viele heutige Kongressmitglieder einer Neuauflage dieses Schützenfestes für weiße Männer mit Gewehren zu entgehen hofften. Vorauseilend gehorsam.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 19. April 2013


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