Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Vor 35 Jahren hätte ich Trayvon Martin sein können"

Erklärung des US-Präsidenten Barack Obama zum Fall Trayvon Martin


Im Folgenden dokumentieren wir die unwesentlich gekürzte Erklärung von US-Präsident Barack Obama zum Fall Trayvon Martin vom 19. Juli 2013. Die Übersetzung besorgte der Amerika Dienst.

Barack Obama:

(...)

Ich bin heute nicht vorwiegend hier, um Fragen zu beantworten, sondern um über ein Thema zu sprechen, das in der letzten Woche viel Aufmerksamkeit erregt hat – das Urteil im Fall Trayvon Martin. Ich habe gleich nach der Entscheidung am Sonntag eine vorläufige Erklärung abgegeben. Nachdem ich jedoch die Debatte der letzten Woche verfolgt habe, halte ich es für sinnvoll, meine Gedanken dazu etwas ausführlicher darzustellen.

Zunächst möchte ich der Familie von Trayvon Martin noch einmal mein und Michelles Mitgefühl aussprechen. Ich bin beeindruckt, wie gefasst und würdevoll sie mit der ganzen Situation umgehen. Ich kann mir gut vorstellen, was sie durchmachen und finde es bemerkenswert, wie sie damit umgehen.

Zweitens möchte ich noch einmal wiederholen, was ich bereits am Sonntag gesagt habe: Über die juristischen Aspekte dieses Falls wird viel gestritten werden, aber ich werde dieses Thema den Rechtsanalysten und Experten überlassen. Der Richter hat den Fall professionell verhandelt. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung haben ihre Argumente vorgebracht. Die Jury wurde ordnungsgemäß instruiert, dass der Grundsatz des berechtigten Zweifels in einem Fall wie diesem zum tragen kommt, und die Jury hat ein Urteil gefällt. Und wenn die Jury einmal gesprochen hat – so funktioniert unser System. Worüber ich allerdings sprechen möchte, sind Zusammenhänge, Reaktionen und Gefühle.

Als Trayvon Martin erschossen wurde, habe ich gesagt, dass er mein Sohn hätte sein können. Andersherum könnte man auch sagen, vor 35 Jahren hätte ich Trayvon Martin sein können. Wenn man darüber nachdenkt, warum dies zumindest für den afroamerikanischen Teil der Bevölkerung so schmerzlich ist, muss man bedenken, dass die Afroamerikaner dieses Thema im Zusammenhang mit einer Reihe von Erfahrungen und einer Geschichte betrachten, die nicht verschwinden wird.

Es gibt nur wenige afroamerikanische Männer in diesem Land, die nicht die Erfahrung gemacht haben, dass man sie verfolgt, wenn sie in einem Kaufhaus einkaufen. Auch ich habe das erlebt. Nur wenige afroamerikanische Männer wissen nicht, wie es ist, über die Straße zu gehen und zu hören, wie die Autotüren von innen verschlossen werden. Auch mir ist das passiert – zumindest bis ich Senator wurde. Es gibt nur wenige Afroamerikaner, die beim Einsteigen in einen Fahrstuhl nicht erlebt haben, wie eine Frau ihre Handtasche nervös umklammert und den Atem anhält, bis sie aussteigen kann. Das geschieht oft.

Ich möchte nicht übertreiben, aber diese Erfahrungen bestimmen die Art und Weise, wie die Afroamerikaner das auslegen, was eines Nachts in Florida geschah. Man kann sich dem Einfluss, den diese Erfahrungen haben, nicht entziehen. Die Afroamerikaner wissen auch, dass es bei der Anwendung unseres Strafrechts eine Geschichte der Ungleichbehandlung gibt – das gilt für alles von der Todesstrafe bis hin zu der Durchsetzung der Drogengesetze. Auch das hat Auswirkungen darauf, wie dieser Fall interpretiert wird.

Das heißt nicht, dass Afroamerikaner der Tatsache naiv gegenüberstehen, dass junge afroamerikanische Männer unverhältnismäßig oft mit dem Strafrechtssystem in Kontakt kommen. Sie sind unverhältnismäßig oft sowohl Opfer von Gewalt als auch Täter. Das soll keine Entschuldigung sein, aber Afroamerikaner interpretieren die Gründe hierfür im historischen Kontext. Sie wissen, dass die Gewalt, die es in armen afroamerikanischen Wohngegenden im ganzen Land gibt, aus einer gewalttätigen Vergangenheit in diesem Land heraus entstanden ist, und dass die Armut und die Probleme in diesen Gemeinden auf eine sehr schwierige Geschichte zurückzuführen sind.

Die Tatsache, dass dies manchmal nicht berücksichtigt wird, trägt noch zur Frustration bei. Die Tatsache, dass viele junge Afroamerikaner über einen Kamm geschert werden und dafür die Ausrede herhalten muss, dass es Statistiken gibt, die zeigen, dass junge Afroamerikaner gewalttätiger sind – also zu sehen, dass afroamerikanische Jungen mit dieser Entschuldigung anders behandelt werden, ist schmerzlich.

Meiner Meinung nach stehen die Afroamerikaner auch der Tatsache nicht naiv gegenüber, dass jemand wie Trayvon Martin statistisch gesehen mit höherer Wahrscheinlichkeit von einem anderen Afroamerikaner erschossen wird als von jemand anderem. Man ist sich der Probleme, die sich jungen Afroamerikanern stellen, also durchaus bewusst. Aber es wird meines Erachtens frustrierend, wenn das Gefühl entsteht, dass es keinen Kontext dafür gibt oder dieser Kontext verleugnet wird. Das trägt meiner Meinung nach zu dem Eindruck bei, dass es bei einem weißen Teenager in der gleichen Situation anders abgelaufen wäre – von Anfang bis Ende, sowohl was das Ergebnis als auch die Folgen angeht.

Die Frage, die sich mir und vielen anderen nun also stellt, lautet: Was tun wir nun? Wie können wir daraus lernen und einen besseren Weg einschlagen? Ich verstehe, dass es Demonstrationen, Mahnwachen und Proteste gibt, dass vieles einfach zum Ausdruck gebracht werden muss, solange alles friedlich bleibt. Wenn ich Gewalt sehe, werde ich die Menschen daran erinnern, dass sie damit das Andenken von Trayvon Martin und seine Familie entehren. Aber über Protestaktionen und Mahnwachen hinaus stellt sich die Frage, ob es konkrete Dinge gibt, die wir tun könnten.

Ich weiß, dass Eric Holder die Ereignisse überprüft, aber man sollte dazu klare Erwartungen haben. Bei diesen Themen geht es für gewöhnlich um Angelegenheiten des Bundesstaates und der Kommunen, um das Strafrecht. Die Strafverfolgung geschieht normalerweise auf Ebene der Bundesstaaten und Kommunen, nicht auf nationaler Ebene.

Das bedeutet allerdings nicht, dass wir als Nation nicht einige Dinge tun können, die ich für produktiv halte. Ich möchte nun einige Details nennen, die ich derzeit noch mit meinen Mitarbeitern erörtere. Wir haben keinen Fünf-Punkte-Plan zur Hand, aber es gibt einige Bereiche, auf die wir uns meiner Ansicht nach alle konzentrieren sollten.

Erstens denke ich, da die Strafverfolgung oft auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene stattfindet, wäre es sinnvoll, wenn das Justizministerium, die Gouverneure und Bürgermeister im Bereich Aus- und Weiterbildung mit den Strafverfolgungsbehörden auf bundesstaatlicher und staatlicher Ebene zusammenarbeiten, um den Mangel an Vertrauen in das System auszuräumen, den es derzeit teilweise gibt.

In Illinois habe ich Gesetze zur Fahndung unter Berücksichtigung ethnischer Kriterien verabschiedet, und dies hat zwei einfache Dinge bewirkt. Erstens wurden Daten zu Verkehrskontrollen gesammelt und die ethnische Abstammung der Personen festgestellt, die angehalten wurden. Außerdem erhielten wir damit Ressourcen zur Weiterbildung von Polizeibehörden im ganzen Bundesstaat, wie mögliche ethnische Vorurteile erkannt werden können und wie man noch professioneller arbeiten kann.

Anfangs waren die Polizeibehörden im ganzen Staat nicht davon begeistert, erkannten dann aber, dass sie – wenn dies auf gerechte und direkte Art durchgeführt wird – ihre Arbeit besser verrichten können, die Gemeinden ihnen mehr Vertrauen entgegenbringen und sie besser zur Durchsetzung von Gesetzen beitragen. Die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden ist offensichtlich nicht einfach.

Dies ist meiner Meinung nach also ein Bereich mit vielen Ressourcen und bewährten Maßnahmen, die wir nutzen können, wenn die Regierungen auf bundesstaatlicher und kommunaler Ebene dafür empfänglich sind. Ich denke, viele von ihnen wären dazu bereit. Wir sollten darüber nachdenken, ob es Möglichkeiten gibt, diese Art von Weiterbildung voranzutreiben.

Ich denke, es wäre in diesem Zuge auch förderlich, einige bundesstaatliche und kommunale Gesetze zu überprüfen um herauszufinden, ob sie so angelegt sind, dass sie zu Auseinandersetzungen, Konfrontationen und Tragödien wie der in Florida führen könnten, anstatt mögliche Auseinandersetzungen zu verhindern.

Ich weiß, dass darüber diskutiert wurde, dass die Stand Your Ground-Gesetze in Florida in diesem Fall nicht als Verteidigung aufgeführt wurden. Wenn wir allerdings als Gesellschaft die Botschaft vermitteln, dass jemand, der bewaffnet ist, das Recht hat, diese Waffen zu nutzen, auch wenn es einen anderen Ausweg aus der Situation gegeben hätte – trägt dies dann dazu bei, den Frieden, die Sicherheit und die Ordnung zu schaffen, die wir uns wünschen?

Und diejenigen, die sich dem Ansatz verschließen, diese Stand Your Ground-Gesetze zu überdenken, fordere ich dazu auf, sich die Frage zu stellen, ob sich Trayvon Martin auf dem Bürgersteig hätte verteidigen können, wenn er volljährig und bewaffnet gewesen wäre. Und sind wir wirklich der Meinung, dass es gerechtfertigt gewesen wäre, wenn er Mr. Zimmermann erschossen hätte, der ihn mit seinem Auto verfolgte, weil er sich bedroht fühlte? Wenn diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann, denke ich, dass wir diese Gesetze prüfen sollten.

Drittens müssen wir – und dies ist ein auf lange Sicht angelegtes Projekt – uns damit befassen, wie wir junge Afroamerikaner fördern und stärken können. Michelle und ich sprechen häufig über dieses Thema. Es gibt zahlreiche Kinder, die Hilfe benötigen, die häufig negative Bestärkung erhalten. Gibt es mehr, das wir tun können, um sie wissen zu lassen, dass ihr Land sich um sie kümmert, sie wertschätzt und in sie investieren möchte?

Ich bin nicht naiv was die Aussichten für ein großes neues und bundesweites Programm angeht. Ich bin nicht sicher, dass es darum überhaupt geht. Aber ich weiß, dass ich als Präsident die Möglichkeiten habe, Menschen zusammenzubringen, und dass es viele gute Programme gibt, die in unserem Land in diesem Bereich durchgeführt werden. Ich denke, es wäre ein gutes Ergebnis einer offensichtlichen Tragödie, dass wir Unternehmer und lokale Amtsträger, Geistliche, Stars und Sportler zusammenbringen, um Möglichkeiten zu finden, wie wir jungen Afroamerikanern besser vermitteln können, dass sie ein vollständiger Bestandteil dieser Gesellschaft sind, und dass es für sie Wege zum Erfolg gibt. Wir werden Zeit dafür aufwenden, daran zu arbeiten und uns damit auseinanderzusetzen.

Schließlich denke ich, dass es für uns alle wichtig ist, unser eigenes Gewissen zu prüfen. Es wurde darüber gesprochen, ob wir eine Gesprächsrunde zum Thema ethnische Abstammung abhalten sollten. Ich habe nicht erlebt, dass es besonders produktiv ist, wenn Politiker versuchen, Gespräche zu organisieren. Am Ende sind sie steif und politisiert, und die Politiker halten an den Standpunkten fest, die sie bereits hatten. Die Menschen in Familien, Kirchen und an ihren Arbeitsplätzen sind hingegen ein wenig ehrlicher, und man stellt sich selbst wenigstens die Frage, ob man sich der eigenen Vorurteile ausreichend entledigt. Beurteile ich die Menschen so gut ich kann nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter? Ich denke, dies wäre angesichts dieser Tragödie eine angemessene Übung.

Ich möchte nun einen letzten Gedanken mit Ihnen teilen. So schwierig und kompliziert dieser Vorfall für viele Menschen auch ist, möchte ich nicht, dass wir vergessen, dass es besser wird. Jede Generation scheint Fortschritte darin zu machen, das Denken der Menschen über ethnische Abstammung zu ändern. Das bedeutet nicht, dass wir in einer Post-Rassismus Gesellschaft leben. Das bedeutet nicht, dass es keinen Rassismus mehr gibt. Aber wenn ich mit Malia und Sasha spreche, ihren Freunden zuhöre und sehe, wie sie einander behandeln, merke ich, dass sie besser mit diesen Themen umgehen, als wir. Dies trifft auf alle Gemeinden zu, die ich in diesem Land besucht habe.

Wir müssen daher wachsam sein und an diesen Themen arbeiten. Die Amtsträger unter uns sollten alles dafür tun, um an das Gute in uns zu appellieren anstatt Vorfälle wie diese zu nutzen, um die Kluft zwischen den Menschen zu erweitern. Wir sollten aber auch das Vertrauen haben, dass die Kinder von heute es besser wissen als wir und ganz besonders als unsere Eltern und Großeltern, und dass wir auf dieser langen und schwierigen Reise eine vollkommenere Union – keine vollkommene, sondern eine vollkommenere – werden.

Vielen Dank.

Originaltext: Remarks by the President on Trayvon Martin

Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten
http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst/



Zurück zur USA-Seite

Zurück zur Homepage