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Lebenslange Haft für türkische Autorin

Pinar Selek ist PEN-Stipendiatin in Berlin

Von Jan Keetman, Istanbul *

Die 38-jährige Soziologin und Feministin Pinar Selek ist in Ankara zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Vorgeworfen wurde ihr, 1998 im Auftrag der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) an einem Bombenanschlag in Istanbul beteiligt gewesen zu sein. Pinar Selek, die derzeit auf Einladung des deutschen PEN-Zentrums in Berlin lebt, will das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg anfechten.

Das Leben der temperamentvollen Türkin ist ein Stück türkischer Zeitgeschichte. Als Pinar Selek neun Jahre alt war, wurde ihr Vater, der bekannte Anwalt Alp Selek, inhaftiert. Sein Verbrechen bestand darin, dass er dem Vorstand einer bis zum Militärputsch von 1980 legalen und im Parlament vertretenen linken Partei angehört hatte. Pinar Seleks Interesse für die Unterdrückten jeglicher Art, aber auch für die Motive der Unterdrücker, wurzelt in jener Zeit. Sie studierte Soziologie und wollte eine wissenschaftliche Abhandlung über den Kurdenkonflikt verfassen. Dazu nahm sie auch Kontakt zu PKK-nahen Kreisen auf. Gleichzeitig unterstützte sie ein viel beachtetes Projekt für Straßenkinder in Istanbul. Im Sommer 1998 wurde sie plötzlich zur Topterroristin erklärt. Zusammen mit anderen soll sie am Ausgang des Ägyptischen Basars eine Bombe gelegt haben. Bei der Explosion starben sieben Menschen, weit über 100 wurden verletzt. Pinar Selek drohte die damals noch nicht abgeschaffte Todesstrafe.

Der Prozess nahm teilweise groteske Züge an. Ein Belastungszeuge widerrief seine Aussage. Nachdem ein Gutachten die Möglichkeit eines Bombenanschlags eingeräumt hatte, führten andere Gutachten die Explosion auf eine defekte Gasflasche an einem Imbiss zurück. Nach jedem entlastenden Gutachten vertagte sich das Gericht und bestellte ein neues. Pinar Selek blieb zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft und wurde nach eigenen Aussagen gefoltert. Man habe sich an ihren auf den Rücken gebundenen Händen aufgehängt und ihr Stromschläge auf die Kopfhaut verpasst. Schließlich wurde sie zweimal freigesprochen, selbst die Staatsanwaltschaft distanzierte sich von der Anklage.

Pinar Selek beschäftigte sich weiter mit Tabuthemen und mit Randgruppen, darunter auch Transvestiten. Daneben schrieb sie Geschichten für Kinder. Ihr jüngstes Buch – in Deutsch unter dem Titel »Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt« erschienen – enthält vor allem Interviews, in denen sie der Bedeutung des Wehrdienstes bei der Sozialisierung türkischer Männer nachgeht. Anlass dazu war der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink, den Pinar Selek persönlich kannte. Sie wollte wissen, wie das Milieu entstand, aus dem der jugendliche Mörder stammte, der allerdings für den Militärdienst noch zu jung war. Das Buch hatte in der Türkei in kurzer Zeit fünf Auflagen.

Pinar Selek lebt derzeit als deutsche PEN-Stipendiatin für Autoren im Exil in Berlin. In ihrer Wohnung hängt ein großes Istanbul-Bild. Kehrte sie nach Istanbul zurück, drohte ihr Haft bis ans Lebensende, denn das jüngste Urteil höchster Instanz lautet nicht einfach auf lebenslänglich, sondern auf lebenslänglich ohne Chance auf Begnadigung selbst bei schwerer Krankheit.

Sie selbst glaubt, dass man den Prozess gegen sie brauchte, weil sich die Regierung nicht traut, direkt gegen ihre populären Veröffentlichungen vorzugehen oder den Verlag unter Druck zu setzen, wie das bei weniger bekannten Autoren durchaus geschieht. Der Journalist Nedim Sener beispielsweise hat ein Buch geschrieben, in dem er der Frage nachgeht, wer dafür verantwortlich war, dass Hrant Dink keinen Polizeischutz erhielt, obwohl die Polizei durch Informanten von dem Mordplan lange vorher unterrichtet war. Wegen dieses Buches wurde Nedim Sener angeklagt, ihm drohen 28 Jahre Gefängnis – weit mehr als dem mutmaßlichen Dink-Mörder.

Für Pinar Selek hatte sich bei einem Türkei-Besuch im April auch Literaturnobelpreisträger Günter Grass eingesetzt. Grass, der auch Ehrenpräsident des deutschen PEN-Zentrums ist, übergab dem türkischen Kulturminister Ertugrul Günay seinerzeit eine Solidaritätserklärung für Selek mit 479 Unterschriften von Autoren und Politikern in Deutschland. Zu den Unterzeichnern der Erklärung gehörten neben Grass Peter Härtling, Norbert Lammert, Martin Mosebach, Cem Özdemir, Rüdiger Safranski, Joachim Sartorius, Martin Walser, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Christa Wolf.

* Aus: Neues Deutschland, 25. November 2010


Lebenslang für türkische Soziologin

Türkische Presse phantasiert über Zerwürfnis zwischen Öcalan und Bürgermeister von Diyarbakir

Von Nick Brauns **


Die türkische Soziologin Pinar Selek wurde am Dienstag vom Obersten Gerichtshof der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß Selek als führendes Mitglied der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK am 9. Juli 1998 einen Bombenanschlag im Gewürzbasar von Istanbul verübt habe, bei dem sieben Menschen getötet und 127 verwundet wurden. Die Polizei und Wissenschaftler der Gerichtsmedizin bezweifelten allerdings nach der Explosion, daß diese überhaupt durch einen Sprengsatz verursacht wurde. So könne es sich auch um einen Unfall durch eine defekte Gasflasche gehandelt haben, meinten die Experten.

Selek war kurz nach der Explo­sion aufgrund einer unter Folter zustande gekommenen Zeugenaussage verhaftet, selbst gefoltert und zwei Jahre inhaftiert worden, bevor sie von einem Istanbuler Gerichtshof freigesprochen wurde. Auch nachdem der Oberste Gerichtshof das Verfahren erneut an das Istanbuler Gericht zurückverwies, folgte ein Freispruch. Es sei nicht notwendig zu beweisen, daß die Explosion durch eine Bombe erfolgte, begründeten die Richter des Obersten Gerichtshofes jetzt ihr Urteil. Selek, die als Stipendiatin des PEN-Schriftsteller-Zentrums in Deutschland lebt, kündigte an, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen. Eine PKK-Mitgliedschaft hatte Selek, die durch ihre feministischen und antimilitaristischen Forschungen und Initiativen ins Fadenkreuz des türkischen Staates geriet, immer bestritten. Für Selek hatte sich unter anderem Literaturnobelpreisträger Günther Grass eingesetzt

Während in den letzten Tagen Militäroperationen gegen mutmaßliche PKK-Kämpfer in der Provinz Diyarbakir begannen und die türkische Armee erneut Ziele im Nordirak bombardierte, versuchen regierungsnahe türkische Tageszeitungen, ein Zerwürfnis zwischen dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan und dem beliebten Oberbürgermeister der Millionenstadt Diyarbakir, Osman Baydemir, auszumachen. Öcalan habe aus Angst vor einen Konkurrenten, der ihm den Rang als möglicher Verhandlungspartner mit dem Staat ablaufen können, Baydemir sowie die ehemaligen Abgeordneten und Vorsitzenden der vor einem Jahr verbotenen Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP Ahmet Türk und Aysel Tugluk scharf kritisiert, heißt es in der Todays Zaman vom Mittwoch. Tatsächlich hatte Öcalan vergangene Woche im Gespräch mit seinen Rechtsanwälten die vorschnellen Hoffnungen einiger kurdischer Politiker zurückgewiesen, wonach die Zeit des bewaffneten Kampfes vorüber sei. Baydemir, der seit Oktober wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft in Diyarbakir gemeinsam mit 151 anderen Politikern vor Gericht steht, hatte kürzlich erklärt, die »Phase der Gewalt« sei vorbei, da die PKK und die türkische Armee den jeweiligen Gegnern mit Waffengewalt nicht besiegen könnten.

** Aus: junge Welt, 25. November 2010

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