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Auf der Flucht

Nach der Vertreibung der Bevölkerung aus Nordwasiristan kann der Feldzug des pakistanischen Militärs beginnen

Von Knut Mellenthin *

Pakistan hat seine Vorbereitungen für eine Großoffensive gegen die Aufständischen in Nordwasiristan abgeschlossen. Der Einsatz von Bodentruppen kann jederzeit beginnen. Wie schon bei zahlreichen früheren Feldzügen dieser Art wurde zunächst die Bevölkerung aus dem geplanten Kampfgebiet vertrieben. Das dient dazu, eine rücksichtslose Kriegführung mit möglichst geringen »Kollateralschäden« und ohne lästige Zeugen zu ermöglichen. Journalisten und internationale Beobachter werden ebenfalls ferngehalten.

Offiziell wird die Massenflucht als »Evakuierung« bezeichnet, obwohl der Staat dabei keine Hilfestellungen leistet. Die Militärführung beschränkt sich darauf, die bevorstehende Offensive anzukündigen und die Bevölkerung aufzufordern, das Gebiet bis zu einem bestimmten Termin zu verlassen. Wer sich danach noch dort aufhält, wird als »Terrorist« betrachtet und behandelt. Mit der zeitweisen Verhängung von Ausgangssperren rund um die Uhr und der demonstrativen Bombardierung einzelner Häuser verstärkt das Militär die Angst in der Bevölkerung und beschleunigt die Fluchtbewegung. In den letzten Tagen waren die Preise von Fuhrunternehmern und Autovermietern bereits so angestiegen, daß viele der noch Zurückgebliebenen nur zu Fuß flüchten konnten und fast ihr ganzes Eigentum zurücklassen mußten.

Montag war der Tag, an dem Militär und Behörden die »Evakuierung« für beendet erklärten. Bis dahin waren über 400000 Menschen aus Nordwasiristan geflüchtet: 405000 nach Angaben eines Regierungssprechers, »mindestens« 430000 nach Schätzungen örtlicher Behördenvertreter. Das entspricht ungefähr den statistischen Erkenntnissen über die gesamte Bevölkerung dieses Gebiets. Es ist die größte Fluchtbewegung seit dem mehrmonatigen Feldzug im Swat-Tal und seiner Umgebung vor fünf Jahren. Damals lag die Zahl der Vertriebenen bei über zwei Millionen, weil das Gebiet größer und dichter besiedelt ist als Nordwasiristan.

Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge, erfahrungsgemäß etwa zehn bis 15 Prozent, läßt sich in den hastig improvisierten staatlichen Lagern nieder. Neben der unzureichenden Ausstattung mit Wasser und sanitären Anlagen widerspricht auch der mit dem Lagerleben verbundene Mangel an Privatheit und Diskretion der traditionellen paschtunischen Kultur. Andererseits funktionieren die sozialen Strukturen noch sehr gut, so daß die meisten Flüchtlinge bei Verwandten oder Bekannten unterkommen können.

Die Militärführung hat angekündigt, ihren Feldzug gegen das schon seit Wochen abgeriegelte Gebiet so lange zu führen, »bis der letzte Terrorist vernichtet ist«. Da die Großoffensive gegen Nordwasiristan aber schon seit Anfang des Jahres vorherzusehen war, haben anscheinend viele Kämpfer, insbesondere die Ausländer oder andere nicht dort Ansässige, die Re­gion längst verlassen. Von der Tatsache, wie viele Aufständische wirklich noch dort sind, hängt die Dauer der Operation entscheidend ab. Nordwasiristan ist der einzige Teil der Stammesgebiete im Nordwesten Pakistans, der in den vergangenen Jahren noch nicht Ziel einer Großoffensive war. Formal bestand dort sogar bis vor wenigen Wochen ein 2006 geschlossener Waffenstillstand.

Mit der Entscheidung, die Militärkampagne durchzuführen, folgt Pakistan einem langjährigen Drängen der USA. Zeichen der Anerkennung folgten sofort. Der für die Ausgabenbewilligung zuständige Senatsausschuß stimmte am 22. Juni zu, daß Pakistan im Steuerjahr 2015 Hilfsgelder in Höhe von 960 Millionen Dollar erhalten soll. Bei einer Anhörung im außenpolitischen Ausschuß des Senats lobte dessen Vorsitzender Robert Menendez, ein Demokrat, den geplanten Feldzug als einen »längst überfälligen Schritt, der darauf hindeutet, daß die pakistanische Regierung die Gefahr durch grenzüberschreitende Terrorgruppen ernster nimmt«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 25. Juni 2014


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