Der Weg zurück ist kein Ausweg
Palästina wird weiterhin für Unabhängigkeit kämpfen
Von Marwan Bishara*
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Beitrag, der am 11. April in der Schweizer Wochenzeitung WoZ erschien.
... Hätte jemand den Juden und Jüdinnen am Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts, als sie noch etwa zehn Prozent der Bevölkerung von
Palästina ausmachten, gesagt, sie würden eines Tages über einen Staat
verfügen, der 78 Prozent des Landes umfasse und 80 Prozent der Stadt
Jerusalem zur Hauptstadt habe – sie hätten dies wohl als allzu schönen
Traum abgetan.
Hätte man den restlichen neunzig Prozent der Bevölkerung Palästinas zum
gleichen Zeitpunkt gesagt, dass sie eines Tages drei Viertel ihres Landes
verlieren würden, nachdem drei Viertel der Bevölkerung zur Flucht
gezwungen worden seien, und dass sie sich mit weniger als 10 Prozent
ihres Landes begnügen müssten, die zudem durchlöchert seien wie ein
Emmentaler Käse von 200 illegalen Siedlungen unter dem Schutz eines
atomwaffenbestückten Nachbarn, der von einem berüchtigten General
angeführt werde – sie hätten sich gegen einen solchen Albtraum gewehrt.
Nun ist der Albtraum Wirklichkeit geworden, und mehr und mehr
PalästinenserInnen sind bereit, wie Samson aus der Bibel den Tempel
Israels und sich selber zu Fall zu bringen. ... «Wenn das Leben unter der Besatzung schon unmöglich geworden ist», so sagen die PalästinenserInnen, «dann soll der Preis für diese Besatzung wenigstens untragbar werden.» Anstatt sich aber mit den Ursachen für
diesen alarmierenden Wandel der palästinensischen Haltung zu befassen,
nutzt Premierminister Ariel Scharon die Attentate, um einen teuflischen
Kreislauf von Vergeltungsgewalt vom Zaum zu reissen.
Zur Eskalation kam es, weil sowohl Israeli als auch PalästinenserInnen
versuchten, gewaltsam zu erreichen, was sie diplomatisch nicht erlangen
konnten. Die PalästinenserInnen wollen einen eigenen Staat auf jenen
Gebieten, die Israel seit 1967 besetzt hält. Israel dagegen will weiter über
Grenzen und Form eines palästinensischen Staates entscheiden, und zwar
je nach den Sicherheitsbedürfnissen seiner illegalen SiedlerInnen.
Die gegenwärtigen Militäraktionen sind die typische Antwort von Israeli, die
militärische Gewalt für erfolgversprechender halten als diplomatische
Initiativen. ...
Ariel Scharon versprach, wie schon sein Mentor Yitzhak Schamir, den
Israeli Sicherheit mit oder ohne Frieden, doch seine Regierung hat in allen
Sicherheitsbelangen versagt – ob es um Abschreckung oder Vorbeugung
der Gewalt ging oder darum, sie vorauszusehen.
Scharons neuester Krieg wird Selbstmordattentäter nicht stoppen. Auf der
vergeblichen Suche nach einer alternativen palästinensischen Führung, die
seinen Vorstellungen eines Grossisrael zustimmen könnte, zerstört er
jedoch alles, was von einer wirtschaftlichen oder politischen Infrastruktur
Palästinas übrig geblieben ist.
Die Identität der PalästinenserInnen hingegen wurde geformt von politischen
Enttäuschungen und militärischen Misserfolgen. Die Palästinensische
Befreiungsorganisation PLO kam nach der arabischen Niederlage im Krieg
von 1967 zu einiger Bedeutung. Sie konnte jedoch die Lage der
PalästinenserInnen nicht verbessern. Dies und Scharons Invasion des
Libanon (1982) führte 1987 zum Volksaufstand gegen die israelische
Besetzung – diese Intifada endete, als der Osloer Friedensprozess begann.
Der Friedensprozess (zehn Jahre lang Verhandlungsschritte und deren
etappenweise Umsetzung) führte nur noch zu grösserer palästinensischer
Enttäuschung. Die Zahl der illegalen israelischen Siedlungen verdoppelte
sich, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in den
Autonomiegebieten verschlechterten sich. Der Friedensprozess brachte
weder Freiheit noch Würde und liess den PalästinenserInnen nur eine
Option: Widerstand gegen die Besatzung.
Israel dagegen hat eine andere Möglichkeit: Scharons Versuch, den
gegenwärtigen Krieg als eine Fortsetzung des Unabhängigkeitskrieges von
1948 darzustellen, ist irreführend. Dieser Krieg ist bewusst gewählt und
daher vielmehr mit Scharons Krieg im Libanon (1982) vergleichbar. Zwanzig
Jahre danach führt er die Region wiederum zur Explosion. ...
Der Weg zurück ist kein Ausweg. Die Parteien müssen nicht nur zu einem
Waffenstillstand gezwungen werden, sondern zu einem Vertrag über eine
friedliche Trennung der beiden Völker. Israel sollte einen international
garantierten Frieden akzeptieren, der seine Sicherheit und die
palästinensische Souveränität gewährleistet.
Sonst werden die PalästinenserInnen, wie die Israeli und die
AmerikanerInnen und viele andere vor ihnen, weiterhin mit allen ihnen zur
Verfügung stehenden Mitteln für ihre Unabhängigkeit kämpfen.
* Marwan Bishara ist Dozent für Internationale Beziehungen an der Amerikanischen Universität von Paris.
Aus: WoZ, 11. April 2002; der ganze Artikel ist im Internet einzusehen unter: www.woz.ch
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