Libyen feiert im Bann der Milizen
Wenig Zufriedenheit am zweiten Jahrestag des Beginns des Aufstandes gegen Gaddafi
Von Alfred Hackensberger, Tanger *
Anlässlich des 2. Jahrestages des Beginns
des Aufstandes gegen Libyens
Revolutionsführer Gaddafi am Sonntag
waren sowohl Jubelfeiern als auch
Proteste von sogenannten Föderalisten
geplant. Letztere sind nach Gesprächen
mit der Regierung erst einmal
abgesagt worden.
Ali ist zufrieden. Er hat mit dem
Jahrestag der libyschen Revolution
ein gutes Geschäft gemacht.
»Fast jeder, der vorbeifuhr, kaufte
eine Flagge. »Selbst, wer am Vortag
schon eine mitgenommen hatte,
tat das am Tag darauf noch einmal.
« Ali verkaufte die neue, rotschwarz-
grüne Nationalfahne am
Märtyrerplatz, der vormals Grüner
Platz hieß; jener Ort in Tripolis, an
dem vier Jahrzehnte lang die großen
Feierlichkeiten von Muammar
Gaddafi stattfanden.
Als die Rebellen im August
2011 die Hauptstadt eroberten,
wehten hier noch die grünen Fahnen
der ihnen verhassten Diktatur.
Ein riesiges Stahlgerüst stand noch, das für die geplante Feier des 41. Jahrestags der Volksrevolution
vom 1. September 1969 errichtet worden war. Daran sollte das größte Poster der Welt, selbstverständlich
mit dem Konterfei Muammar al-Gaddafis, befestigt
werden. Mit dem Personenkult ist es vorbei. Gaddafi wurde im Oktober
2011 in seiner Geburtsstadt Sirte in einer Abwasserröhre gefunden
und getötet. Seitdem ringt Libyen um den Aufbau eines neuen
Staates und demokratischer Strukturen. Im Juli gab es zum
ersten Mal freie Wahlen. Die 200
Abgeordneten des Allgemeinen
Nationalen Kongresses bestimmten
eine Übergangsregierung.
Trotzdem hat sich seit dem
»Tag der Befreiung« am 23. Oktober,
drei Tage nach dem Tod Gaddafis,
wenig getan. Das Revolutionsjubiläum
ist nicht nur ein Anlass
zum Feiern. In Tripolis tauchten
Flugblätter auf, die zu einer
zweiten Revolution aufriefen: »Für
eine Volksrevolte« und »ziviler
Ungehorsam gegen die Autoritäten.
« Die libysche Regierung erklärt,
sie vermutet dahinter »Kräfte
des alten Regimes, die Chaos
und Instabilität säen wollen«.
Dabei sind die Menschen nur
unzufrieden über Preissteigerungen,
Arbeitslosigkeit, Korruption
und die Willkür Hunderter von
verschiedenen Milizen. Die Behörden
verlangen nun spezielle
Genehmigungen für »friedliche
Proteste«. In Bengasi werden
ebenfalls Demonstrationen erwartet.
Zum einen wollen Anhänger
der Unabhängigkeit des libyschen
Nordostens, der Cyrenaika,
auf die Straße gehen. Größere
Proteste werden in Bengasi jedoch
gegen die Macht der Milizen, insbesondere
gegen die der Islamisten,
erwartet.
Extremistische, zum Teil Al
Qaida nahestehende Gruppierungen,
haben rund um Bengasi, aber
auch in der 300 Kilometer entfernten
Stadt Derna Basen und
Trainingslager eingerichtet. Eine
dieser islamistischen Milizen soll
für den Anschlag am 11. September
letzten Jahres auf das US-Konsulat
in Bengasi verantwortlich
sein. US-Botschafter Chris Stevens
war dabei ums Leben zu kommen.
Die libyschen Sicherheitsbehörden
sind in Alarmbereitschaft. Die
Angst geht um, dass Proteste in
gewaltsame Konflikte ausarten
könnten. Kein Wunder, in einem
Land, dass bis auf die Zähne bewaffnet
ist.
Die Milizen, die mit Hilfe der
NATO Gaddafi und seine Armee zu
Fall brachten, haben sich bisher
geweigert ihre Waffen abzugeben.
In einigen Städten haben die Bewohner
Nachbarschaftswachen
aufgestellt. Viele haben Nahrungsmittel
und Kochgas auf Vorrat
gekauft.
»Wir müssen bereit sein«, sagte
Wanis, ein Familienvater von
vier Kindern in Tripolis. »Man
weiß nie, was passiert. Es gibt keine
Stabilität, und die Regierung hat
keinerlei Autorität.« Noch immer
bestimmen die Milizen. Sie haben
Polizeigewalt, können wahllos
verhaften, haben ihre eigenen Gefängnisse
und Gerichte. Zu Tausenden
sind Gefangene landesweit
eingesperrt, ohne jegliche Kontrolle
und rechtsstaatliche Verfahren.
Einige Milizen könnten die
Gelegenheit nutzen, um Regierungsgebäude,
Raffinerien oder
Flughäfen zu besetzen. Ein »worst
case«-Szenario, aber in Libyen,
ohne jegliche staatliche Autorität,
jederzeit denkbar.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 16. Februar 2013
Zurück zur Libyen-Seite
Zurück zur Homepage