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"Es gibt keine Erlösung ohne Leiden"

Der israelische Außenminister Shlomo Ben-Ami im Interview

Am 9. Dezember 2000 veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung ein Interview mit dem israelischen Außenminister (der zugleich Innenminister ist) Shlomo Ben-Ami. Am selben Tag, an dem das Interview erschien, gab Ministerpräsident Barak seinen Rücktritt bekannt. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Interview.
Zur Person:
R. M. Shlomo Ben-Ami, der heutige israelische Aussenminister, wurde 1943 in Marokko geboren. Als er noch ein Kind war, wanderte seine Familie 1955 nach Israel aus. Er studierte Geschichte in Tel Aviv und Oxford. Später bekleidete er eine Professur an der Universität von Tel Aviv. Von 1987 bis 1991 war er israelischer Botschafter in Spanien. 1996 wurde Ben-Ami als Mitglied der Arbeitspartei in die Knesset gewählt. In der Regierung Barak diente er zuerst als Minister für innere Sicherheit. Nach dem Rücktritt von Aussenminister Levy übernahm er zusätzlich dessen Ressort.


Frage: Gibt es zurzeit politische Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Behörde?

Was wir in den vergangenen Wochen hatten, war eine Reihe von Kontakten, die darauf abzielten, das Ausmass der Gewalt zu reduzieren. Damit sollten die Bedingungen für die Umsetzung der Vereinbarung von Sharm ash-Sheikh geschaffen werden. In den letzten Tagen konnten wir etwas wirkungsvollere Bemühungen der palästinensischen Behörde zur Durchsetzung ihrer Autorität bei den verschiedenen Gruppen in den autonomen Gebieten feststellen. Ich glaube, dass das die Folge unserer Kontakte sowie der ägyptischen und amerikanischen Bemühungen war. Gleichzeitig versuchten wir herauszufinden, ob es genügend Spielraum gibt für die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen. Diese bleiben weiterhin ein strategisches Ziel für Israel.

Können Sie sich vorstellen, dass ein umfassendes Friedensabkommen zustande kommen wird, bevor die Amtszeit der Clinton-Administration zu Ende geht?

Ich glaube nicht, dass wir unter solch strikten Zeitlimiten agieren müssen. Ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter eines umfassenden Friedensabkommens. In Camp David und danach sind sich sowohl die Israeli als auch die Palästinenser bewusst geworden, was die wirklichen -nicht die eingebildeten - Grenzen der Verhandlungsbereitschaft auf der Gegenseite sind. Dadurch sind wir einem Abkommen nähergekommen. Seit zwei Monaten sind wir in eine tragische Situation verstrickt, einen gegenseitigen Abnützungskrieg, bei dem Israel seine militärische Macht nicht einsetzen darf und in dem das palästinensische Volk seinen Frustrationen über die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen Luft macht. Vielleicht sind die beiden Parteien einander gerade durch diese Krise nähergekommen. Es gibt keine Erlösung ohne Leiden. Möglicherweise müssen wir uns hier im Heiligen Land dieser Einsicht besser bewusst werden.

Wurden Sie durch die jüngsten Unruhen überrascht?

Nein. Aber ich wurde vom Ausmass der Ausschreitungen überrascht. Ich hatte schon drei Wochen vor Beginn des Gewaltausbruchs in einem Vortrag erklärt, dass möglicherweise eine solche Entwicklung bevorstehe und dass die Parteien erst dann die nötige Reife entwickeln werden, um die «Roten Linien» der Gegenseite anzuerkennen. Ähnlich könnte man sagen, dass der Jom-Kippur-Krieg den Weg für das Abkommen von Camp David (zwischen Begin und Sadat) ebnete und die erste Intifada zum Oslo-Abkommen führte. Wenn ich es philosophisch betrachte, war dieser Ausbruch der Gewalt vielleicht unvermeidlich. Im Ausland, wo man so viele andere Sorgen hat, kann man die Schwierigkeiten des arabisch-israelischen Konflikts in seiner ganzen Komplexität nicht voll erfassen. Nirgends gibt es so verwickelte Streitfragen, wie zum Beispiel um Jerusalem, die israelischen Siedlungen, die palästinensischen Flüchtlinge und eine palästinensische Staatsgründung. Solche Probleme können vielleicht gar nicht mit konventionellen diplomatischen Mitteln gelöst werden.

Rückblickend betrachtet: War das Ziel eines umfassenden Abkommens in Camp David vielleicht zu ehrgeizig?

Ich denke, wenn wir einmal eine Friedenslösung erreicht haben - und wir werden eines Tages dazu kommen -, wird man Camp David in einem anderen Licht sehen, nämlich als wesentlichen Markstein auf dem Weg zum Frieden. Das Treffen übt einen bedeutenden pädagogischen Einfluss auf die öffentliche Meinung in Israel aus, obwohl man sich dessen heute noch nicht überall bewusst ist. Zum ersten Mal haben die Israeli realisiert, dass man an die Nerven des Konflikts rühren kann, ohne daran zugrunde zu gehen. Man kann sogar beginnen, über die Zukunft Jerusalems in einer Weise zu reden, wie es bisher bei uns noch niemand wagte. Camp David war ehrgeizig, aber darum geht es ja. Wir müssen ehrgeizig sein, um ein Ende des Konflikts zu erreichen.

Könnten Sie sich in der jetzigen Situation ein Teilabkommen vorstellen?

Natürlich können wir Teilabkommen nicht ausschliessen. Aber ich bin kein Anhänger eines solchen Vorgehens. Wir sollten unterscheiden zwischen Teillösungen und Interimsabkommen. Ein Teilabkommen ist ein Abkommen, bei dem einige der anstehenden Probleme gelöst werden und gleichzeitig ein Mechanismus zur Bereinigung der restlichen Streitpunkte vereinbart wird. Eine Interimslösung wäre eine Wiederholung des Oslo-Konzepts, das jetzt zusammengebrochen ist. Der Oslo-Prozess beruhte auf der Annahme, dass die Zukunft offen bleibt, ohne dass ein Regelwerk für eine endgültige Vereinbarung geschaffen wurde. Das war eine Einladung an die Parteien zur Schaffung von Faits accomplis - Siedlungsbau auf der israelischen Seite, Terrorismus auf der palästinensischen. Da die Zukunft unklar war, wollten beide Seiten auf diese Weise ihre Vorstellungen durchsetzen. Wir dürfen nicht zu solchen Interimsabkommen zurückkehren. Teillösungen sind etwas anderes.

Wie stellen Sie sich die Zukunft der isolierten Siedlungen in Cisjordanien und im Gazastreifen im Rahmen einer endgültigen Konfliktregelung vor?

Alle Beteiligten wissen, dass diese isolierten Siedlungen einen unmöglichen Zustand darstellen, sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten. Aber wir unterscheiden zwischen Siedlungsblöcken, die an die grüne Linie angrenzen, und Siedlungen im Herzen der palästinensischen Gebiete. Wir rechnen damit, dass die meisten Siedler in den erwähnten Blöcken leben werden.

Glauben Sie, dass eine Mehrheit der Israeli in einer Volksbefragung einem endgültigen Friedensvertrag zustimmen wird?

Ja, falls wir eine vernünftige Vereinbarung erzielen können, die den Palästinensern einen Staat gewährt mit einem arabisch-palästinensischen Al Kuds und einem jüdisch-israelischen Yerushalaim sowie einer Lösung für den Tempelberg, die sicher gefunden werden kann. Nach den jetzigen Unruhen wird die Zustimmung zu einer solchen Einigung sogar zunehmen.

Ist eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge nach Israel für Sie denkbar?

In dieser Frage kann Israel nicht nachgeben. Es sollte kristallklar sein, dass man nicht einen palästinensischen Staat gründet, um dann einen Teil der im Exil lebenden Bevölkerung im Nachbarstaat anzusiedeln. Für uns würde das eine Art Selbstmordübung bedeuten. Wir wollen Frieden, aber wir sind keine Utopisten. Ich weiss, dass das eine bittere Pille für die Palästinenser ist, aber einige Entscheidungen fallen auch uns sehr schwer. Eine materielle Entschädigung an Flüchtlinge wäre damit jedoch nicht ausgeschlossen. Ich respektiere die nationalen Mythen aller Länder, aber in diesem Fall können wir uns nicht nach der palästinensischen Mythologie richten. Wenn wir einen vernünftigen Frieden wollen, müssen beide Seiten gewisse Mythen überprüfen und anerkennen, dass einige unrealistisch sind. Die Konsequenz ist nicht nur der Verzicht auf Grundbesitz, sondern auch die Preisgabe von Mythen. Letzteres fällt manchmal schwerer. Aber es ist die Aufgabe politischer Führer, ihr Volk auch von der Notwendigkeit schmerzhafter Kompromisse zu überzeugen.

Sind Sie besorgt über den internationalen Prestigeverlust Israels seit Ausbruch der neuen Intifada?

Israel leidet manchmal unter einem Mangel an Verständnis für seine Lage. Man liebt uns, wenn wir Konzessionen machen wie in Camp David, nicht wenn wir gegen die Gewaltwelle kämpfen. Das Verhältnis zwischen Israel und Europa ist besonders kompliziert, aber das wäre ein anderesThema. Für den durchschnittlichen Fernsehzuschauer ist Israel die stärkere Seite, aber in Wirklichkeit trifft dies nicht zu.

Meinen Sie das auch im militärischen Sinne?

Welche militärische Macht haben wir? Wir können sie nicht einsetzen, wir dürfen sie nicht einsetzen. Man sagt, Israel beanspruche vor allem Sicherheit. Aber das beansprucht jedes Land. Auch die Schweiz verlangt Sicherheit. Als demokratisches Land liegt es nicht in unserem Interesse, uns auf einen Kleinkrieg einzulassen, der international starke Beachtung findet. Keine Demokratie ist für eine solche Konfrontation geschaffen. Wer ist hier der David, wer der Goliath?Ich unterschätze allerdings die Leiden der Palästinenser keineswegs. Diese Krise verursacht dem durchschnittlichen Palästinenser unsagbare Not. Ein Teil der Verantwortung fällt auf die palästinensische Behörde, aber auch uns trifft Schuld an diesem Zustand. Das Schicksal des palästinensischen Volkes lastet schwer auf unserem kollektiven Bewusstsein. Sie verdienen ihre Unabhängigkeit, aber auch wir verdienen es, dass sie unabhängig werden. Dazu ist eine vernünftige Entflechtung notwendig. Als Historiker bin ich überzeugt, dass es in gewissem Sinne gerade die israelische Besetzung ist, die den Palästinensern heute die Chance zu einer eigenen staatlichen Unabhängigkeit gibt.

Glauben Sie, dass es in Israel doch noch zu einer Koalition mit dem Likudführer Sharon kommen wird?

Nein, das erwarte ich nicht. ...

Mit Ben-Ami sprachen in Jerusalem der NZZ-Redaktor Reinhard Meier und der Israel-Korrespondent George Szpiro.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 9. Dezember 2000

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