Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein "jüdisch-demographischer Staat" oder eine "Demokratische Republik Israel" / "Jewish Demographic State" or "Israeli Democratic Republic"?

Von Uri Avnery

Nachfolgender Artikel von Uri Avnery erschien unter dem Titel "Israel: The Jewish Demographic State?" im Oktober auf der Internetseite von ZNet. Wir dokumentieren den Beitrag in einer deutschen Übersetzung von Andrea Noll sowie im englischen Original.


Klingt wie ein schlechter Witz, ist aber leider wahr: Ein israelischer Rabbi hat sich nach Peru aufgemacht, um dort einige amerikanische Ureinwohner zum Judaismus zu bekehren, anschließend hat er sie dann nach Israel geschleppt u. in einer jüdischen Siedlung untergebracht - also auf Land, das man zuvor den palästinensischen Besitzern abgenommen hatte. Dort werden diese Peruaner mittlerweile - wie alle (jüdischen) Siedler - großzügig mit Regierungsgeldern subventioniert - Geld, das Tausenden Israelis, die unterhalb der Armutsgrenze leben, vorenthalten bleibt. Und wenn sie nicht gestorben sind, die Peruaner, dann leben sie munter weiter in der Siedlung (es sei denn, sie begehen den Fehler u. verlassen sie in einem ungepanzerten Fahrzeug, dann könnte es ihnen nämlich passieren, dass sie in einen Hinterhalt der ursprünglichen palästinensischen Landesbesitzer geraten).

Was für einen Grund könnte ein Staat wohl haben, völlig fremde Leute von einer Hemisphäre zur andern zu schaffen, damit sie die eigene eingeborene Bevölkerung vertreiben, die hier seit Jahrhunderten ansässig ist - u. dafür einen ewigen blutigen Konflikt in Kauf zu nehmen? Die Antwort auf diese Frage trifft die Grundfesten des israelischen Staats. Seit Gründung des Staats Israel waren dessen Emissäre emsig unterwegs, “Juden” (aus aller Welt) zusammenzuholen. Auch in der ehemaligen Sowjetunion wurden sie angeblich ‘fündig’: Christen mit weitläufiger jüdischer Verwandtschaft (die berühmte “jüdische” Großmutter) oder auch Leute, die schlicht gefälschte Stammbäume vorzeigten. Keiner weiß genau, wieviele Nichtjuden auf diese Art durch Vermittlung der ‘Jewish Agency’ (Jüdische Agentur) oder anderer Organisationen nach Israel gelangt sind - mindestens 200 000, womöglich sogar 400 000. Gemäß israelischem Gesetz erhielten sie ganz automatisch die israelische Staatsbürgerschaft.

Vor wenigen Tagen hat man dem ‘National Demographic Council’ (Nationaler Rat für Demographie) neues Leben eingehaucht, nachdem er zuvor jahrelang zur Inaktivität verdammt gewesen war. Dabei handelt es sich um eine Institution - mit etwas befasst, was viele Israelis als drängendstes Problem unseres Landes begreifen, drängender noch als der Krieg mit den Palästinensern, als Saddams Massenvernichtungswaffen, als unsere wachsende Arbeitslosigkeit oder die Wirtschaftskrise: das “demographische Problem” nämlich. Man grübelt darüber in Universitäten, diskutiert es in den Medien, Kommentatoren u. Politiker erläutern es uns. Und mit Computern bewehrte “Experten” rechnen uns vor, wie hoch in Israel der prozentuale Anteil der Juden in 10, 25, 50 oder 100 Jahren sein wird. Wird ihr Anteil wohl unter 78 Prozent sinken - oder Gott bewahre! - gar auf 75 Prozent absacken. Wird wohl die Gebärfreudigkeit orthodoxer Jüdinnen - plus zu erwartende (jüdische) Einwanderung - ausreichend sein, den Ausstoß arabischer Uteri auszugleichen? Und falls nicht, was kann man dagegen unternehmen? Einige schlagen vor, massive Anreize für jüdische Geburten zu schaffen, während man den natürlichen Bevölkerungszuwachs der Araber massivst hemmt. Andere schlagen vor, den jüdischen Immigranten aus Russland zu verbieten, ihre christlichen Angehörigen mitzubringen (was unser Rückkehrrechts-Gesetz in seiner jetzigen Form ja noch erlaubt). Einige fordern, sofort alle Gastarbeiter aus dem Land zu werfen - bevor die sich nämlich häuslich hier niederlassen u. Familien gründen. Andere wiederum beten für eine Welle des Antisemitismus in Frankreich oder Argentinien (aber bitte um Gotteswillen nicht in den USA!), die uns Massen von Juden ins Land treiben könnte. Und viele, darunter auch Mitglieder der Scharon-Regierung, votieren für die allersimpelste Lösung: werft alle Araber aus dem Land. Auch einer der “neuen Historiker”, Benny Morris, machte kürzlich eine entsprechende Bemerkung: Ben-Gurion hätte das gleich 1948 erledigen sollen. Die Einstellung des Staats Israel zu seinen arabischen Bürgern - inzwischen noch 19 Prozent der Bevölkerung - erinnert stark an jenen biblischen Pharaonen, der laut ‘Altem Testament’ seinem ägyptischen Volk folgende Empfehlung in Bezug auf die damalige nationale Minderheit (israelitisches Volk) gab: “Wohlan, wir müssen uns ihm gegenüber klug verhalten, damit es nicht noch zahlreicher wird.” Und bzgl. der Methoden heißt es (Exodus 1): “Sie verbitterten ihnen (den Israeliten) das Leben” . Laut offizieller Definition ist Israel ein ‘Jüdisch-Demokratischer Staat’. So ist es im Gesetz fixiert, u. so hat es der Oberste Gerichtshof (Israels) bestätigt. Theoretisch stellen die beiden Adjektive (‘jüdisch’ u. ‘demokratisch’) keineswegs einen Widerspruch dar: unser Staat ist zwar jüdisch, aber auf der anderen Seite garantiert die demokratische Verfassung die Gleichstellung der Nichtjuden im Land - respektive umgekehrt: unser Staat ist demokratisch mit einem gewährleisteten jüdischen (Staats-)Charakter. Die Wirklichkeit sieht indes anders aus: dies ist kein ‘jüdisch-demokratischer’ vielmehr ein ‘jüdisch-demographischer Staat’. In allen Bereichen hat die Demographie Vorrang vor der Demokratie. So wird unsern arabischen Mitbürgern von Kindesbeinen an u. in jeder Situation klargemacht: Nein, ihr seid kein Teil unseres Staates, ihr seid bestenfalls geduldete Bewohner. Ganz gleich, wo ein Araber auch hinkommt, in eine Behörde, auf die Polizeistation oder an seinen Arbeitsplatz - ja selbst in der Knesset wird er anders behandelt als ein Jude, u. das selbst in Zeiten relativer Ruhe. Sicher - abgesehen vom Rückkehrrechts-Gesetz, das “Juden” (in aller Welt) bzw. jüdischen Familien das uneingeschränkte Recht auf Einreise nach Israel einräumt (sehr im Gegensatz zu arabischen Flüchtlingen), existiert in Israel kein Gesetz, das in diskriminierender Weise zwischen “Juden” u. Nichtjuden unterscheiden würde. Aber das ist alles rein vordergründig. In Wirklichkeit gibt es unzählige Gesetze, die denjenigen spezielle Privilegien einräumen, “auf die das Rückkehrrechts-Gesetz anzuwenden ist” - wobei der explizite Begriff ‘Jude’ vermieden wird. Das alles ist bei uns etwas so Selbstverständliches, dass sämtliche offizielle staatliche Stellen entsprechend handeln, ohne erst viel zu überlegen. Die ‘Israelische Landbehörde’ beispielsweise verteilt Land nur an Juden, keineswegs an Araber. Und auch sämtliche Landesentwicklungsprogramme denken nur u. ausschließlich an Juden. Seit Gründung des Staats Israel wurden so hunderte neuer Dörfer u. Städte geschaffen - aber nicht ein einziger neuer Ort für Araber. Wir haben keinen einzigen arabischen Minister im Kabinett sitzen u. keinen einzigen arabischen Richter auf der Bank des Obersten Gerichtshofs. Normalerweise werden all diese Defizite mit dem derzeitigen palästinensisch-israelischen Konflikt wegerklärt. Schließlich sind die arabischen Bürger Israels ja auch Palästinenser. Stellt sich allerdings die Frage, was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Ist die anti-arabische Haltung Israels nun Resultat des (bewaffneten) Konflikts oder verhält es sich genau umgekehrt: hält diese anti- arabische Haltung vielmehr den Konflikt am laufen?

Israel-Kritiker werfen unserm Staat vor, er betreibe eine Apartheids”-Politik, analog der südafrikanischen Rassismus-Doktrin. Diese Analogie ist jedoch zum Teil ein Holzweg. Denn anders als Apartheid basiert Zionismus nicht auf Rasse. Vielmehr stellt er eine Mischung aus Ghetto-Mentalität u. europäischem 19.-Jahrhundert-Nationalismus dar. Mit ‘Ghetto-Mentalität’ meine ich die Denkweise einer verfolgten, isolierten Gemeinschaft, die die Welt insgesamt unterteilt sah in Juden u. Gojim (Nichtjuden). Der europäische Nationalismus andererseits trat für die Schaffung homogener, national-ethnischer Staaten ein. Der jüdisch-demographische Staat saugt hiervon beide Elemente auf - insofern er einen homogen-jüdisch, national-ethnischen Staat verkörpert - mit sowenig Nichtjuden in seiner Mitte wie möglich.

In Europa, dem Geburtsland des klassischen Nationalismus, findet derzeit ein Übergang statt - hin zum eher modernen Verständnis der USA. In Amerika ist ja jeder mit einem amerikanischen Pass automatisch Teil der amerikanischen Nation - unabhängig von seiner Hautfarbe u. seiner ethnischen Zugehörigkeit. Dieses Verständnis hat wesentlich dazu beigetragen, Amerika zum mächtigsten Land der Erde zu machen - sowohl in kultureller, wirtschaftlicher als auch militärischer Hinsicht. Zudem leiten die Nationalstaaten Europas ihre Souveränität immer mehr auf die EU über. Und sie gewähren ihren Immigranten die Staatsbürgerschaft - schließlich leisten diese ja auch einen wesentlichen wirtschaftlichen Beitrag bzw. helfen dabei, die sozialen Sicherheitssysteme abzusichern. In Deutschland beispielsweise wird Immigranten-Kindern, die im Land geboren sind, die deutsche Staatsbürgerschaft gewährt. Frankreich u. Großbritannien sind noch liberaler.

Das heutige Israel steht vor einer historischen Entscheidung: Entweder, es regrediert zum jüdischen Ghetto - mit demographischer Überfremdungsangst u. nationalem Staats-Dschinderassabum - oder es wählt den Weg in die Zukunft u. entwickelt eine neue nationale Perspektive, angelehnt an das amerikanisch-europäische Modell. Der Zionismus war die letzte Nationalbewegung Europas. So gesehen ist auch der israelische Kolonialismus 200 Jahre zu spät dran. Vielleicht ist es auf diesem Hintergrund ganz normal, dass uns auch die Herausforderung einer neuen nationalen Perspektive mit Verspätung erreicht. Aber letztendlich, so meine Hoffnung, wird der ‘Jüdisch-Demographische Staat’ doch noch der ‘Demokratischen Republik Israel’ weichen müssen - im Interesse der Sicherheit u. des Wohlergehens seiner Bürger.

Aus: ZNet/Mideast, 11.10.2002

Israel: The Jewish Demographic State?

by Uri Avnery

It sounds like a bad joke, but it really happened: A rabbi went from Israel to Peru, converted a group of Native Americans to Judaism, brought them to this country and put them in a settlement, on land taken away from its Palestinian owners.

There they receive, as all settlers do, generous government subsidies, paid for with money taken away from thousands of Israelis living below the poverty line. There they can live happily ever after (unless they leave the settlement in an unarmored car, in which case they may be ambushed by the original Palestinian owners.)

What causes a state to bring total strangers from another hemisphere in order to displace the native people, who gave lived there for many centuries, at the price of an eternal bloody conflict? The answer touches the foundations of Israel.

Since the founding of the state, its emissaries have been searching for "Jews". In the former Soviet Union, Jews were discovered either by finding Christians with remote Jewish family connections (the "Jewish grandmother") or by simply forging documents. Nobody knows how many non-Jews were thus brought to Israel by the Jewish Agency and other organizations--at least 200 thousand, perhaps 400 thousand. According to the laws of Israel, they were automatically accorded citizenship.

A few days ago, the "National Demographic Council" was revived, after being condemned to inactivity for some years. This is an institution that is supposed to deal with what many Israelis consider the state's most important problem--more important than the war with the Palestinians, Saddam's weapons of annihilation, growing unemployment and the economic crisis.

The "demographic problem" is being pondered in universities, talked about in the media, expounded by politicians and commentators.

"Experts" with computers are calculating what will be the percentage of Jews in Israel in 10, 25, 50 or a hundred years time. Will they be less than 78%? Or--God forbid!--only 75%? Will the womb of the orthodox Jewish woman, in addition to expected immigration, balance the production of the Arab uterus?

And if not, what can be done? Some propose encouraging Jewish births while resolutely discouraging Arab natural increase. Some suggest preventing Jewish immigrants from Russia from bringing with them Christian family members (allowed by the Law of Return in its present form.) Some demand the immediate expulsion of all foreign workers, before they settle down and establish families. Some pray for a wave of anti-Semitism in France or Argentina (but definitely not in the United States), that will push multitudes of Jews towards Israel. Many, including members of Sharon's government, support the simplest solution: driving all Arabs out of the country. The "new historian", Benny Morris, recently hinted that Ben-Gurion should have done this in 1948.

The attitude of the state to it Arab citizens, who now number 19% of the population, reminds one of Pharaoh, who--according to the Bible--told his people how to deal with another national minority: "Come on, let us deal wisely with them, lest they multiply." And of the method employed: "They made their lives bitter." (Exodus, 1)

According to the official definition, Israel is a "Jewish Democratic State". This was enshrined in law and endorsed by the Supreme Court. In theory, there is no contradiction between the two adjectives: The state is Jewish, but democracy safeguards equality for non-Jews, too. Or, alternatively, the state is democratic, but safeguards its Jewish character.

In reality, this is not a "Jewish democratic state" but a "Jewish demographic state". Demography overcomes democracy in all fields of action. An Arab citizen feels at every turn, since childhood, that he has no part in the state, that he is, at most, a tolerated resident. In every government office, police station or place of work, even in the Knesset, he is treated differently from a Jew, even in times of quiet. True, apart from the Law of Return, which gives a "Jew" and his family (but not to Arab refugees) the absolute right to come to Israel, no law discriminates between a "Jew" and a non-Jew. But this is only make-believe: numerous laws accord special privileges to persons "to whom the Law of Return applies", without mentioning "Jews" specifically.

This is so self evident, that all state officials act accordingly without even being aware of it. The "Israel Land Authority" distributes land to Jews, not to Arabs. All state development projects include Jews only. Among the hundreds of new towns and villages set up since the founding of Israel, not a single one was established for Arabs. There is no Arab minister in the Government, no Arab judge on the Supreme Court bench.

Usually, all these omissions are explained away by the ongoing Israeli-Palestinian conflict. After all, Israel's Arab citizens are Palestinians, too. But the question is what causes what: does the conflict create the anti-Arab attitude or does the anti-Arab attitude prolong the conflict?

Critics of Israel accuse it of practicing "Apartheid", the South African racist doctrine. This analogy may be partly misleading. Unlike Apartheid, Zionism is not based on race, but on a mixture of ghetto mentality and 19th century European nationalism.

Ghetto mentality is the spirit of a persecuted, isolated community, which saw the whole world as divided between Jews and Goyim (gentiles). European nationalism strove for a homogeneous national-ethnic state. The Jewish demographic state has absorbed both these elements: a homogeneous Jewish national-ethnic state, with as few non-Jews as possible.

In Europe, where classical nationalism was born, it is giving way to the modern American outlook, which considers that every holder of a US passport belongs to the American nation, irrespective of race and ethnic origin. This has helped it becoming the most powerful state in the world, culturally, economically, and militarily. European nation-states are gradually ceding sovereignty to the European Union, and their citizenship is accorded to foreign immigrants, too, who contribute to their economy and safeguard their social welfare system. In Germany, children of immigrants born in the country receive citizenship, Britain and France are even more liberal.

Israel is faced with a historical choice: to go back to being a Jewish ghetto, with demographic anxieties and state trappings, or to go forwards towards a new national outlook, on the American-European model.

Zionism was the last European national movement. Israeli colonialism, too, has come 200 years too late. So it is perhaps natural that the challenge of adopting a new national outlook comes rather late. But in the end, I hope, the Jewish Demographic State will be replaced by the Israeli Democratic Republic, for the welfare and security of its citizens.


Zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage