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Übergangsverfassung, Frauenrechte und Scharia

Zum Weg des Irak in die US-dominierte "Unabhängigkeit"

Am 5. März 2004 sollte in Bagdad der wenige Tage zuvor mühsam zustande gebrachte Kompromiss-Verfassungsentwurf für den Irak feierlich verkündet werden. In letzter Minute wurde die Zeremonie wieder abgesagt, weil es doch erhebliche Bedenken gegen einzelne Bestimmungen im Entwurf gab. Die Agenturen meldeten hierzu am 5. März:

Einem Gewährsmann zufolge wandte sich der schiitische Großayatollah Ali el Husseini el Sistani gegen die den Kurden zugestandenen Autonomierechte. "Es gibt einige Vorbehalte, wir versuchen sie auszuräumen", erklärte auch Hamed el Bajati vom Obersten Rat für eine Islamische Revolution in Irak, der die Vorlage ebenfalls nicht unterschreiben wollte. Nach Bajatis Angaben wollten die Kurden sicherstellen, dass die künftige permanente Verfassung die aus drei Provinzen bestehende kurdische Autonomiezone im Norden Iraks beibehalten würde. Sie hätten deshalb durchsetzen wollen, dass durch Zweidrittelmehrheiten in jeweils drei beliebigen Provinzen jede Änderung der Übergangsverfassung hätte blockiert werden können. Angesichts der geringen Bevölkerungsdichte in den drei kurdischen Provinzen hielten die Schiiten dies für inakzeptabel, sagte Bajati.
Ein Vertreter Sistanis wandte sich auch bei den Freitagsgebeten am 5. März in Kerbela gegen diese Klausel. Wenn eine bestimmte Partei das Recht erhalte, ein Veto gegen die künftige Verfassung einzulegen, dann sei dies eine gefährliche Sache, betonte Scheich Abdel Mehdi el Kerbalai. Dem geplanten Föderalsystem zufolge wäre es allerdings allen 18 irakischen Provinzen erlaubt, zu selbstständigen Regionen zu werden. Damit öffnet sich für die Schiiten die Tür zu einer autonomen Region im Süden ähnlich der kurdischen Selbstverwaltung im Norden. Details müsste jedoch die künftige Nationalversammlung festsetzen. Vorbehalte gab es laut Bajati auch noch über die künftige Präsidentschaft, die gemäß der Vorlage aus einem Staatsoberhaupt und zwei Stellvertretern bestehen soll. Die Schiiten wollten dagegen eine fünfköpfige rotierende Präsidentschaft. Wann eine Einigung erzielt werden könnte, blieb zunächst unklar.
Die Unterzeichnung der neuen Verfassung musste bereits zwei Mal verschoben werden. Schon am vergangenen Wochenende gab es Unstimmigkeiten über den Text. Eine weitere Verzögerung brachte die Staatstrauer nach den verheerenden Anschlägen zum schiitischen Aschura-Fest am 2. März.

Im Folgenden tragen wir ein paar Informationen über die Verfassung aus verschiedenen Quellen zusammen.


Übergangsverfassung und Zeitplan

Der irakische Interimsaußenminister Hoshjar Sebari hat dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 2. März 2004 einen genauen Zeitplan für die Machtübergabe im Irak vorgelegt. Er entspricht nach Angaben aus diplomatischen Kreisen dem Abkommen zwischen dem irakischen Regierungsrat und der US-Zivilverwaltung von Mitte November letzten Jahres.
Dies sind die vorgesehenen Etappen:
  • März 2004: Annahme eines vorläufigen "Grundgesetzes", das der Regierungsrat "in enger Abstimmung" mit der US-Zivilverwaltung erarbeitet hat und das bis Ende 2005 gültig sein soll. Die Verfassung soll nun im dritten Anlauf am 8. März unterzeichnet werden.
  • 31. März 2004: Regierungsrat und Zivilverwaltung schließen ein Abkommen über den künftigen Status der US-geführten Koalitionstruppen. Am 6. März wurde bekannt, dass die Besatzungskoalition sechs Militärstützpunkte auch über den 30. Juni 2004 hinaus behalten werden.
  • 31. Mai 2004: Bildung der Übergangsversammlung. Die Mitglieder des repräsentativen Gremiums sollen durch 18 Provinzräte gewählt werden, die das gesamte Spektrum der religiösen und ethnischen Vielfalt des Iraks widerspiegeln sollen. Dazu zählen beispielweise Vertreter der Hochschulen, Berufsverbände und Stammesgemeinschaften.
  • 30. Juni 2004: Einsetzung einer Übergangsregierung durch die Übergangsversammlung. Zur gleichen Zeit lösen sich die US-Zivilverwaltung sowie der im Juli 2003 von den USA eingesetzte irakische Übergangsrat auf. Die irakische Übergangsregierung erhält die volle Souveränität - na ja, im Rahmen der von Zivilverwalter Bremer vorher festgelegten Grenzen (siehe z.B. Beibehaltung von Militärstützpunkten).
  • 15. März 2005: Allgemeine Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung. Dieses Gremium erarbeitet einen Verfassungsentwurf, über den in einem Referendum abgestimmt werden soll.
  • Ende 2005: In allgemeinen und freien Wahlen bestimmen die Iraker eine neue Regierung. Das "Grundgesetz" von Februar 2004 verliert seine Gültigkeit.
Quelle: Der Standard (Wien), Online-Ausgabe (Irak-Dossier)

Auszüge aus dem Verfassungstext:

Präambel:
Die Übergangsverfassung soll die Freiheit des vom „einstigen diktatorischen Regime unterjochten“ irakischen Volks wieder-herstellen.

Islam:
Der „Islam ist offizielle Staatsreligion und eine Quelle der Gesetzgebung“ (Artikel 7). „Diese Verfassung achtet die islamische Identität der Mehrheit der irakischen Bevölkerung und garantiert die völlige Freiheit aller anderen Religionen und ihrer religiösen Kulte“.

Präsidentschaft:
An der Staatsspitze steht ein Präsident, dem zwei Stellvertreter zugeordnet werden. Die Wahl des Präsidenten richtet sich nach der Staatsform. Bislang ist nach Angaben eines Regierungsratsmitglieds noch keine Entscheidung für ein parlamentarisches oder präsidentielles System gefallen.

Föderalismus:
Kurdistan bleibt autonom. Die anderen Provinzen des Landes sollen je eine Provinzregierung erhalten. Abschließend wird eine gewählte (Bundes)-Regierung darüber entscheiden.

Wahlen:
Die Übergangsregierung, der am 30. Juni von den Besatzungsmächten die Gewalt übertragen wird, bereitet Wahlen für ein Übergangsparlament „wenn möglich, vor dem 31. Dezember 2004, und in jedem Fall nicht nach dem 31. Januar 2005“ vor. Keine Aus-sage trifft die Übergangsverfassung zur Gestalt der Exekutive, etwa hinsichtlich der Frage, ob der amtierende Regierungsrat erweitert werden soll.

Parlament:
Ein Übergangsparlament wird bis zum 15. August 2005 eine endgültige Verfassung ausarbeiten, über die in einem Referendum vor dem 15. Oktober abgestimmt wird. Für den 15. Dezember desselben Jahres ist eine neue Parlamentswahl geplant.

Frauen:
Mindestens ein Viertel der Abgeordneten im Übergangsparlament sind Frauen.

Sprache:
Arabisch und Kurdisch sind die beiden offiziellen Landessprachen. Minderheiten wie die Turkmenen dürfe ihre Sprachen unterrichten.

Quelle: AFP, Süddeutsche Zeitung, 5. Februar 2004


Inga Rogg setzte sich in einem Beitrag für die Schweizer Wochenzeitung "WoZ" mit der Verfassung unter dem Aspekt der Rechte der Frauen und des islamischen Rechts auseinander. In ihrem Beitrag "Wutentbrannte Mullahs" schreibt sie u.a.

(...) Unabhängig von Geschlecht, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit ist jeder Bürger im Irak vor dem Gesetz gleich. So steht es in der am Montag (1. März 2004) vom irakischen Regierungsrat verabschiedeten Übergangsverfassung. Der Passus ist Teil des Grundrechtekatalogs, der auch von der künftigen Interims-Nationalversammlung nicht verändert werden kann. In US-amerikanischer und britischer Rechtstradition gewährt er weitreichende Individualrechte wie die Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit sowie das Recht auf freie Religionsausübung. Die meisten dieser Grundrechte waren innerhalb des Regierungsrats, dessen politisches Spektrum bis in die sunnitische Muslimbruderschaft und die konservative schiitische Geistlichkeit reicht, nie umstritten. Anders sah es freilich bei den Frauenrechten aus.

In einer überraschend anberaumten Abstimmung hatten die Konservativen Ende Dezember das bisherige Personenstandsgesetz von 1959 abgeschafft und mit der Order 137 die Scharia eingeführt. Die Abstimmung war knapp, und etliche Ratsmitglieder waren nicht anwesend. Frauenorganisationen und fortschrittliche PolitikerInnen liefen gegen den Ratsbeschluss Sturm, der die rechtliche Benachteiligung von Frauen noch verschärft hätte. Erst vor wenigen Jahren gelang es kurdischen Frauenorganisationen, das bisherige Recht zumindest in Kurdistan zu reformieren: Bislang wurde der Gattenmord mit dem Tod bestraft, während Männer bei Morden wegen so genannter Ehrverletzungen durch Frauen mit keinerlei beziehungsweise minimalen Strafsanktionen zu rechnen hatten. Obwohl auch die Kurdinnen in der juristischen Praxis nach wie vor im Hintertreffen sind – sich der Scharia zu unterwerfen, war schlicht unvorstellbar.

Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein gibt es von Seiten konservativer Geistlicher Bestrebungen, Frauen vom öffentlichen Leben auszuschliessen. Als die Besatzungsbehörde im vergangenen Sommer in Nadschaf eine Richterin einsetzen wollte, musste sie die Berufung unter dem Druck der schiitischen Geistlichen wieder zurücknehmen. Allerdings hatten die Geistlichen dabei sogar das irakische Recht auf ihrer Seite, das Frauen vom Richteramt ausschliesst. Nur im kurdischen Suleimanija hat man vor zwei Jahren eine Richterin berufen. Der Einfluss der religiösen Parteien macht es hingegen in vielen Landesteilen für Frauen schwer, sich an der politischen Neugestaltung des Zweistromlandes zu beteiligen. Oft müssen sich Frauen, die sich an den neu geschaffenen Provinz- und Stadtverwaltungen beteiligen wollen, Beschimpfungen und üble Nachrede gefallen lassen. Die selbst ernannten Sittenwächter schrecken aber auch vor Gewalt nicht zurück. Zwar wehte den Frauen schon in den letzten zehn Jahren ein rauer Wind entgegen, als Saddam sein Regime religiös verbrämte. Doch die neu gewonnene Freiheit förderte erst einmal die Macht der konservativen Mullahs zutage.

Beinahe schien es, als hätten die Frauen den Kampf gegen die Scharia schon verloren. Vergangenen Freitag legte jedoch eine Gruppe Ratsmitglieder während der Verhandlungen um die künftige Verfassung die Order 137 erneut zur Abstimmung vor. Da sich diesmal eine Reihe schiitischer Mitglieder, aber auch der Vertreter der sunnitischen Islamischen Partei, die der Muslimbruderschaft nahe steht, der Stimme enthielten, fand das Gesetz keine Mehrheit. (...)

Gemäss dem nun ausgehandelten Kompromiss ist der Islam die offizielle Religion des Irak und eine, aber nicht die ausschliessliche Quelle der Rechtsfindung. Zudem dürfen keine Gesetze erlassen werden, die dem Wesen des Islam zuwiderlaufen. Gleichzeitig dürfen aber die unveräusserlichen Grundrechte nicht ausser Kraft gesetzt werden. Das klingt nach der Quadratur des Kreises, schränkt aber den Einfluss der Geistlichen erst einmal ein. Zumal das Übergangsverwaltungsgesetz, wie der offizielle Titel etwas schwerfällig lautet, ein Viertel der Sitze in der künftigen Nationalversammlung für Frauen reserviert. (...)

Aus: WoZ, 4. März 2004

Am 7. März kam die Kunde aus Bagdad, dass der Weg für die Unterzeichnung der Verfassung nun doch frei gemacht worden sei. Die Agenturen meldeten u.a.:

Im Ringen um eine irakische Übergangsverfassung hat der geistliche Führer der Schiiten seinen Widerstand am 7. März offenbar aufgegeben. Nach einem Gespräch mit Großayatollah Ali el Husseini el Sistani in dessen Heimatstadt Nadschaf erklärte das schiitische Verwaltungsratsmitglied Muwafak el Rubaie: "Die Nachricht ist sehr gut und wir werden die Verfassung morgen unterzeichnen." Man sei froh, dass der Großayatollah die Position der schiitischen Politiker verstanden habe. Damit scheint der Weg endgültig frei für das In-Kraft-Treten des Grundgesetzes, was schon drei Mal verschoben werden musste.
Mit seinem Widerstand gegen zwei Klauseln hatte Sistani die Unterzeichnung der Charter am 5. März in letzter Minute platzen lassen. Auf sein Drängen wandten sich fünf von 13 schiitischen Ratsmitgliedern gegen die im Verfassungstext verankerten Autonomierechte der Kurden und stellten auch die geplante Präsidentschaft aus einem Staatsoberhaupt und zwei Stellvertretern in Frage. Aus Kreisen der Besatzungsbehörden verlautete, weder Kurden noch Sunniten seien zu einer Änderung des Textes bereit.
Quellen: AP, AFP vom 7. März 2004


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