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Missachtung des Primats der Politik?

Wie geht es weiter am Hindukusch? ISAF-Befehlshaber McChrystal setzt Präsident Obama unter Druck

Moderator Andreas Flocken
Wie geht es weiter am Hindukusch? Glaubt man dem amerikanischen ISAF-Befehlshaber, dann entscheidet sich im kommenden Jahr, ob die NATO in Afghanistan erfolgreich sein wird oder aber scheitert. Weitere US-Truppenverstärkungen werden von General McChrystal für unausweichlich gehalten. Doch der US-Präsident zögert. Er lässt jetzt seine erst vor wenigen Monaten verkündete neue Afghanistan-Strategie überprüfen. Hören Sie Andreas Dawidzinski:

Manuskript Andreas Dawidzinski

Seit Juni ist Stanley McChrystal ISAF-Befehlshaber in Afghanistan – als Nachfolger von General McKiernan, der nach nur kurzer Zeit sein Kommando abgeben musste. Von McChrystal erhofft sich die neue US-Regierung Fortschritte beim Kampf gegen die Aufständischen. Denn die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich in den letzen Jahren immer weiter verschlechtert. Präsident Obama und seinem Team schien der Vier-Sterne-General der richtige Mann zu sein, die im März verkündete neue Afghanistan-Strategie des US-Präsidenten umzusetzen. Ihre zentralen Elemente: Pakistan soll stärker als bisher in den Fokus rücken, zudem gilt es, den zivilen Aufbau des Landes stärker voranzutreiben. Außerdem sollen die Truppen aufgestockt werden. Obama hatte unmittelbar nach seinem Amtsantritt den Hindukusch zur Chefsache gemacht. Der US-Präsident war bereit, alle hierfür benötigten Ressourcen bereitzustellen:

O-Ton Obama
„We will use all elements of our national power to defeat al Qaeda, and to de-fend America, our allies, and all who seek a better future. “

Ende des Jahres werden insgesamt 68.000 US-Soldaten in Afghanistan im Einsatz sein.

Um die neue Afghanistan-Strategie des US-Präsidenten umzusetzen, kündigte McChrystal nach der Kommandoübernahme eine neue Vorgehensweise an. Im Mittelpunkt der militärischen Anstrengungen sollte nicht der Kampf gegen die Taliban stehen, sondern der Schutz der afghanischen Bevölkerung. Ihnen Sicherheit zu geben, müsse das oberste Ziel der Militärmission sein. Dieser Ansatz basiert auf Erfahrungen der US-Truppen aus dem Irak. Dort entwickelte General David Petraeus, jetzt Chef des CENTCOM-Militärkommandos und damit der Vorgesetzte von McChrystal, ein Konzept zur Aufstandsbekämpfung. Militärexperten sprechen von Counterinsurgency, oder kurz COIN. An diesem Konzept orientiert sich nun auch McChrystal in Afghanistan. Inzwischen hat der ISAF-Befehlshaber mehrere Richtlinien für die internationalen Truppen herausgegeben. Sie erfordern eine Umdenken der Militärs – ganz im Sinne des neuen Konzepts. General McChrystal:

O-Ton McChrystal (overvoice)
„Ich glaube, dass oft sehr viel wirkungsvoller und viel wichtiger als den Feind zu attackieren, folgendes ist: Der Kontakt zu den Menschen, sich mit ihnen auseinander zusetzen, die Situation wirklich zu verstehen, um dann alles zu tun, um die Menschen zu schützen. Da müssen wir uns verbessern.“

Zum neuen Ansatz gehört u.a., Luftangriffe auf ein Minimum zu reduzieren – weil der Tod von Zivilisten nicht immer ausgeschlossen werden kann. Im Zweifel sollen die militärischen Führer auf Luftnahunterstützung ganz verzichten. Eine Herausforderung für die Truppe, weil dies ein Umdenken erfordert. Der von der Bundeswehr am 4. September angeforderte Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster bei Kundus steht aus Sicht des ISAF-Befehlshabers im Widerspruch zu dem verkündeten Kurswechsel – auch wenn die Untersuchungen über den Luftschlag offiziell noch nicht abgeschlossen sind. Eine afghanische Kommission ist kürzlich zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Luftangriff 99 Menschen getötet worden sind, unter ihnen auch 30 Zivilisten. General McChrystal war über die Anordnung des Luftschlages durch den deutschen Kommandeur von Kundus offensichtlich verärgert. Hinter vorgehaltener Hand wird inzwischen auch von Bundeswehr-Offizieren eingeräumt, bei der Anforderung des Luftangriffs seien Fehler gemacht worden – auf die Bedrohungssituation habe man nicht angemessen reagiert.

ISAF-Befehlshaber McChrystal hatte sich nach dem Angriff mit einer Video-Botschaft an die afghanische Bevölkerung für mögliche Opfer in der Zivilbevölkerung entschuldigt. Außerdem begab sich der General unverzüglich nach Kundus, um sich selbst ein Bild über die Folgen des verheerenden Luftangriffs zu machen. Im Tross des Generals reiste auch ein Journalist der WASHINGTON POST, der an den vertraulichen Gesprächen mit dem deutschen Kommandeur teilnehmen durfte. In der US-Zeitung waren wenig später Einzelheiten der Unterredung zu lesen. Auf diese Weise machte McChrystal offensichtlich seinem Ärger über den Vorfall Luft. Dieses Vorgehen sorgte wiederum bei der Bundeswehr für Unmut. Von einer Vorverurteilung war die Rede.

Der neue ISAF-Befehlshaber weiß offenbar, seine jeweiligen Botschaften in die Öffentlichkeit zu bringen. Das musste mittlerweile auch die Obama-Administration erfahren. McChrystal sollte nach Übernahme des ISAF-Kommandos eine schonungslose Bestandsaufnahme des Afghanistan-Einsatzes machen. Am 30. August war dieser mehr als 60 Seiten umfassende Bericht fertiggestellt. Der Vier-Sterne-General gab darin eine düstere Lageein-schätzung. Der Report gelangte schnell in die Öffentlichkeit. Auf der Website der WASHINGTON POST konnten Interessierte sich den Bericht herunterla-den. McChrystal warnte darin vor einer Niederlage am Hindukusch. Ohne zu-sätzliche Soldaten könnte die Afghanistan-Mission scheitern. Der US-General fordert mehr Ressourcen, u.a. mehr zivile Helfer sowie eine größere Flexibilität beim Einsatz der verbündeten Truppen. Außerdem ist für den ISAF-Befehlshaber die Anhebung der afghanischen Sicherheitskräfte auf eine Stärke von 400.000 notwendig - das entspricht einer Verdopplung der bisherigen Zielgröße.

Der General hat für seinen Vorstoß die Rückendeckung seiner militärischen Vorgesetzten. Angaben, wie viele zusätzliche Soldaten in Afghanistan benötigt würden, macht der General in dem vorgelegten Bericht nicht. Darauf wurde bewusst verzichtet, wohl wissend, dass die Bestandsaufnahme allein und die darauf basierenden Forderungen schon für genug Aufregung in Washington sorgen würden.

In der vergangenen Woche hat McChrystal seine Truppenanforderungen an Generalstabschef Mullen nachgereicht – während eines Treffens der Spitzenoffiziere auf dem US-Stützpunkt in Ramstein. Es heißt, der ISAF-Befehlshaber würde rund 30.000 zusätzliche US-Soldaten benötigen.

Die Forderungen des Militärs haben den US-Präsidenten in eine schwierige Situation gebracht. Obama steht unter Zugzwang. Denn aus Sicht des ISAF-Befehlshabers kann nur bei einer weiteren Aufstockung der Truppen die von Obama verkündete Afghanistan-Strategie umgesetzt werden. Zugleich bröckelt in den USA aber die Heimatfront. Laut einer Umfrage des US-Fernsehsenders NBC glauben inzwischen rund 60 Prozent der Amerikaner, die Mission am Hindukusch werde scheitern. Mehr als 50 Prozent wenden sich gegen die von McChrystal geforderten Truppenverstärkungen. Dabei sieht das von den US-Militärs propagierte Konzept der Aufstandsbekämpfung u.a. vor, immer dort mit eigenen Kräften präsent zu sein, wo die Bevölkerung lebt. Damit aber machen sich die Truppen verwundbar, die Gefährdung der Soldaten durch Anschläge wächst. So sind im Juli und August fast 100 US-Soldaten getötet worden. Im gleichen Zeitrum des Vorjahres waren es 42. Die Zahl der getöteten Zivilisten ging dagegen in dieser Zeit von über 150 im vergangenen Jahr auf weniger als 20 zurück.

Im Weißen Haus wird nun darüber nachgedacht, wie mit der neuen Truppenanforderung umzugehen ist. Man will sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen, heißt es. Jetzt ist die erst im März vom Präsidenten verkündete Afghanistan-Strategie auf dem Prüfstand. Barack Obama im vergangenen Monat:

O-Ton Obama (overvoice)
„Wir müssen eine Neubewertung vornehmen, und zwar unter Berücksichtigung sämtlicher Aspekte. Wir müssen uns dabei auf das ursprüngliche Ziel konzentrieren, nämlich Al Qaida zu kriegen, also die Leute, die 3.000 Amerikaner getötet haben. Wenn unsere Strategie diesem Ziel dient, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Wenn die Strategie anfängt, sich von diesem Ziel zu entfernen, dann haben wir ein Problem.“

Das wäre dann aber auch ein Problem des US-Präsidenten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der forsche McChrystal bei einer Ablehnung seiner Truppenanforderung das Handtuch wirft. Ein Rückzug des ISAF-Befehlshabers bliebe jedoch nicht ohne Folgen für den US-Präsidenten - insbesondere, wenn sich die Situation am Hindukusch weiter verschlechtert. Die Militärs hätten dringend benötigte Verstärkungen nicht bekommen, würde der Vorwurf an den US-Präsidenten lauten.

Im Weißen Haus tut man sich daher zurzeit sehr schwer. Die Berater von Obama sind sich nicht einig, wie man mit der Truppenanforderung umgehen soll. In den USA fordern Abgeordnete und Senatoren bereits, den ISAF-Befehlshaber vor dem Kongress anzuhören.

Für McChrystal und die US-Militärführung kann der Krieg am Hindukusch nur durch eine Strategie der Aufstandsbekämpfung erfolgreich beendet werden. Counterinsurgency setze aber die Entsendung weiterer Soldaten voraus.

Einen anderen Ansatz verfolgen Kritiker dieser Strategie. Zu ihnen gehört auch Vizepräsident Biden. Er war bereits gegen die Anfang des Jahres von Obama angekündigte Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan. Die USA sollten sich vor allem auf den Kampf gegen Al Qaida und ihrer Helfer konzen-trieren, so der Vizepräsident. Dazu bräuchte man erheblich weniger Soldaten. Militäroperationen vor allem mit Special Forces, Kampfflugzeugen und Droh-nen, so die Vorstellung. Counterterrorism statt Counterinsurgency – Terrorismusbekämpfung statt Schutz der Bevölkerung. Das sind etwas vereinfacht die Schlagworte der Gegner einer Truppenaufstockung.

Und der Vorsitzende des Streitkräfte-Ausschusses des Senats, Carl Levin, empfiehlt dem US-Präsidenten, sich noch stärker als bisher auf die Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte zu konzentrieren:

O-Ton Levin
„I am recommending to the President that first of all before a new reconsidera-tion is made of additional combat forces that we get the Afghan army bigger and better equipped.”

Ein anderer Einwand gegen das Konzept der Aufstandsbekämpfung ist, dass es nur dann funktionieren kann, wenn die Afghanen auch Vertrauen in die eigene Regierung haben. Nach den massiven Wahlfälschungen bei der Präsidentenwahl hat Hamid Karsai aber erheblich an Legitimation verloren. Für ISAF und NATO ist er kein glaubwürdiger Partner mehr. Das von McChrystal verfolgte Konzept der Aufstandsbekämpfung hat daher nur geringe Aussichten auf Erfolg. Mit oder ohne zusätzliche US-Truppen.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 04.10.2009; www.ndrinfo.de


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