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Die Großoffensive in Afghanistan ist dumm

Johan Galtung: Terrorismus kann nur durch Dialog bekämpft werden

Johan Galtung gilt als Begründer der Friedensforschung. 1959 gründete der Norweger in Oslo das Internationale Friedensforschungsinstitut PRIO (The International Peace Research Institute, Oslo). Im Jahr 1987 erhielt der 79-Jährige den Alternativen Nobelpreis, 1993 den Gandhi-Preis. Weltweit wirkte er in über 120 Konflikten als Vermittler. In Krisengebieten wie dem Nordkaukasus, in Ecuador, Afghanistan und Sri Lanka war er aktiv. Mit dem Friedensforscher sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Nissrine Messaoudi.



ND: Die Bundeswehr beteiligt sich derzeit an einer Großoffensive in Nordafghanistan. Verteidigungsminister Franz Josef Jung begründet den Einsatz mit der Verschlechterung der Sicherheitslage im Raum Kundus. Wie beurteilen Sie das Vorgehen?

Galtung: Die Offensive in Afghanistan ist einfach nur dumm. Die Kriegsbeteiligung wird für niemanden zu mehr Sicherheit führen. Weder wird es für die Afghanen noch für Deutschland sicherer. Im Gegenteil, dies wird nur noch mehr Konflikte schüren. Denn es ist ja ganz klar: Wenn man jemanden tötet, dann gibt es für jeden Toten, sagen wir, zehn Verwandte, Freunde und Bekannte, die die Täter hassen. So kann es zur Gefahr für Deutschland kommen. Ich halte dies wirklich für eine außerordentlich dumme Politik.

Jung hat wiederholt betont, dass es sich um einen Stabilisierungsauftrag handle und nicht um Krieg. Ist das Schönfärberei?

Ja, natürlich ist das Krieg. Diese Kriegshandlungen werden rein gar nichts stabilisieren. Afghanistan muss den Afghanen überlassen werden. Entwicklungsprojekte sind zwar wichtig. Aber ein Soldat mit einer Waffe in der einen Hand und einem Kanister Wasser in der anderen kann keine glaubwürdige Entwicklungshilfe leisten. Es wäre besser, wenn solche Projekte von muslimischen Ländern betreut würden, denn durch die Bombardierungen haben die Afghanen - und nicht nur die - das Vertrauen westlichen Staaten gegenüber verloren. Muslimische Länder hätten in Afghanistan mehr Erfolg. Sie verstehen den Islam und verurteilen die Afghanen nicht.

Aber die Taliban gelten international als Verbrecher, die man bekämpfen muss.

Wie viele deutsche Politiker sind denn schon mal einem Talib begegnet? In jeder Gruppierung gibt es moderate und fundamentalistische Überzeugungen. Der Terrorismus kann nur durch Dialog und mit dem Willen zur Versöhnung bekämpft werden. Die USA haben es verpasst, mit den Taliban zu verhandeln. Letztere waren sogar bereit, Osama bin Laden nach dem 11. September an einen anderen islamischen Staat auszuliefern. Die USA haben das ausgeschlagen, einen Krieg begonnen und damit noch mehr Hass auf sich gezogen. Der Westen muss von seiner gewalttätigen Politik ablassen. Die Bombardements auf Afghanistan verschärfen das Problem nur. Ich war als Vermittler in Afghanistan und bin auf äußerst gesprächsbereite Partner gestoßen.

Was wäre Ihr Vorschlag, wie man mit den Taliban oder anderen extremistischen Gruppierungen umgehen sollte?

Nochmals: Dialogbereitschaft ist der Schlüssel zur Lösung des Problems. Es gibt Wortführer in der Nordallianz und unter den Taliban, die sich für eine Koalitionsregierung einsetzen würden. Man muss sie nur aufsuchen und ihnen eine Stimme geben.

Wie sähe Ihrer Meinung nach ein konkreter Lösungsvorschlag für Afghanistan aus?

Der Alternativvorschlag für Afghanistan wäre: Erstens muss man verstehen, dass Afghanistan kein einheitlicher Staat ist, es könnte vielleicht ein Bundesstaat sein. So sollte man nicht von Kriegsherren reden, sondern die Autonomiebestrebungen gegenüber Kabul ernst nehmen. Zweitens muss man die Taliban in einer Koalitionsregierung haben. Ganz ohne die Taliban geht es nicht, nur mit ihnen auch nicht. Drittens glaube ich, dass man mit den islamischen Ländern im Umkreis Afghanistans, die teilweise innerhalb Afghanistans repräsentiert sind, über einen Staatenbund reden könnte.

Das wäre eine gute Aufgabe für die Europäer. Die EU weiß eine Menge darüber, wie man einen Staatenbund kreiert. Dafür müsste man also eine Friedenssicherung haben, aber dies muss nicht nur in Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsrat, sondern auch in Zusammenarbeit mit der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz) geschehen. Deutschland hätte von Anfang an lieber vermitteln sollen, statt sich auf die Seite der USA zu schlagen, nur um die »Supermacht« nicht zu verärgern.

Es hat den Anschein, als bekämen sogenannte Terror-Organisationen immer mehr Zulauf. Sind das die Konsequenzen aus dem Krieg?

In der Tat haben die Taliban und Al-Qaida Zulauf wie nie zuvor. Die Unsicherheit wächst und die Racheakte resultieren aus diesen Kriegshandlungen. Der Hass auf die USA und auf die westlichen Staaten, die durch ihre Truppen die US-Amerikaner unterstützen, wird daher stärker. Die Amerikaner wollen ja das Böse und die Bedrohung stets personifizieren. Damit wird die Dimension des Terrorismusproblems verkannt. Der Krieg gegen Afghanistan und der Krieg gegen den Terror sind nicht mit weiteren Bomben zu gewinnen. Da sehe ich keine Chance.

In westlichen Medien taucht der Islam fast nur noch in Negativ-Schlagzeilen auf. Dabei gibt es auch islamischen Pazifismus. Warum, glauben Sie, berichtet man so einseitig?

Man könnte auch über das Christentum nur negativ berichten und nur von Hexenverbrennung und Inquisition sprechen. Aber man tut es nicht. Im Westen wird vielfach zu wenig differenziert und der Islam als Ganzes dämonisiert. In einem gewissen Sinn handelt es sich bei diesem Konflikt um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Fundamentalismen: dem islamischen und dem christlichen. Dabei gibt es, wie Sie sagten, eine sehr aktive Friedensbewegung im islamischen Raum. Diese Leute sind im Westen kaum bekannt. Sie entstammen der oberen Mittelschicht und kritisieren die Gewalt in der islamischen Welt. Wenn es gelingt, die islamischen und die westlichen Pazifisten zusammenzuführen, entsteht eine Riesenbewegung.

Sehr einflussreich ist etwa die malaysische Organisation »International for the Just World« von Chandra Muzaffar. Diese Leute wenden sich gegen die dogmatische wahabitische Richtung des Islams, der unter anderem die saudiarabische Regierung und die Taliban anhängen.

Sehen Sie denn keine Verbesserungen der USA-Politik unter der Obama-Regierung?

Der US-Präsident ist zwar sehr intelligent und auch charismatisch. Doch die Fakten sprechen gegen ihn. Seine Außenpolitik ist nicht anders als die von George W. Bush. Weshalb ich glaube, dass die Großmacht im Jahre 2020 zusammenbrechen wird. Die ökonomischen, militärischen, kulturellen und natürlich politischen Widersprüche werden den Zerfall des Imperiums herbeiführen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Gehorsamkeit der Bündnisstaaten ist nicht mehr vorhanden. Die Zeiten, in denen die USA der »Großmeister« waren, der den Knaben Dokumente vorlegte, die ohne Vorbehalt unterschrieben wurden, sind vorbei. Die Magie ist verschwunden.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2009


Soldaten dürfen vorbeugend schießen

"Taschenkarte" für Bundeswehr umformuliert. Auf Angriff muß nicht mehr gewartet werden **

Nun hat es jeder deutsche Soldat in Afghanistan schriftlich: Er darf ab sofort auch vor1beugend Gewaltmaßnahmen ergreifen, um das Mandat der Bundeswehr durchzusetzen. Das erklärte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Christian Dienst, am Montag in Berlin. Verteidigungsminister Franz Josef Jung habe am Freitag die Verordnung für die neue »Taschenkarte« begutachtet und unterschrieben, sagte Jung.

Dadurch seien die »Verhaltensmaßregeln in Gefechtssituationen« nun »leichter schlüssig herleitbar«, erklärte der Sprecher. Die »Taschenkarte« enthält die Einsatzregeln, die alle Soldaten in der Ausbildung trainieren müssen. Schußwaffen durften bisher nur zur Abwehr eines unmittelbaren Angriffs eingesetzt werden. Im Zuge der Ausweitung des Krieges gegen Afghanistan waren von deutschen Politikern Vorwürfe laut geworden, die Soldaten hätten keine ausreichenden Befugnisse, in bedrohlichen Situationen Waffengewalt anzuwenden.

Mit der Neuformulierung der »Taschenkarte«, müsse nicht »erst auf einen Angriff gewartet werden, um verhältnismäßig militärische Gewalt einsetzen zu können«, sagte Dienst. Vielmehr dürfe auch »präventiv gearbeitet werden, im Sinne, den mandatierten Auftrag durchzusetzen«.

Der Militärsprecher fügte hinzu, man dürfe sich das nicht so vorstellen, daß der Soldat etwa nächtens im Angesicht des Feindes die »Taschenkarte« hervorholt und sich kundig über das macht, was erlaubt ist. Bei dem Heft handele es sich um ein »intellektuelles Lineal«, anhand dessen die Soldaten vor Einsätzen instruiert werden. (AP/jW)

* Aus: junge Welt, 28. Juli 2009


Aktueller Schießbefehl

Von René Heilig ***

Die Taschenkarte - ursprünglich war das Ding einmal dafür gedacht, jedem Bundeswehr-Soldaten klar zu machen, dass er bei der Wache oder bei einer Streife nicht nach Gutdünken um sich schießen darf. Um »den militärischen Sicherheitsbereich gegen unberechtigten Zugang zu schützen« und »Angriffe abzuwehren, die sich gegen Personal und Rechtsgüter der Bundeswehr und der verbündeten Streitkräfte richten«, galt die klare Regel: Erster Anruf, zweiter Anruf oder Warnschuss ... Reichte das zur Abschreckung eines möglichen Angreifers nicht aus, durfte gezielt abgedrückt werden. So war es einmal. Im Frieden.

Zugegeben, es ist etwas schwerer, auf Paschtunisch oder in irgendeiner anderen Sprache, die in Afghanistan üblich ist, seinen Friedenswillen und seine Autorität zu beweisen. Daher hatte man die Taschenkarten-Formel bereits vor drei Jahren verkürzt. Ein deutscher Soldat musste sich fortan nur noch »soweit praktisch möglich« an das humanitäre Kriegsvölkerrecht halten. Eine bekannte Methode - die politische Führung schob die Verantwortung, einen niemals so erteilten Schießbefehl auszuführen, einfach dem letzten Untergebenen zu. Seit Freitag gibt es nun eine neue »Klarstellung« auf der Taschenkarte. Ein Soldat muss sich nicht mehr angegriffen fühlen, um loszuballern. Und auch wenn der, den man als Feind identifiziert hat oder zugewiesen bekam, flieht, muss der Soldat den Lauf nicht senken.

Wer in den Unterstützungsauftrag genannten Krieg ziehen will, sollte sich fragen: Kann ich einem Menschen in den Rücken schießen? Und bin ich bereit, mich so zu einem seelischen Krüppel machen zu lassen?

*** Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2009 (Kommentar)


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