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Tödliches Spiel

Blutige Krawalle in ägyptischem Fußballstadion *

Nach dem Fußballspiel der Klubs Al-Masry und Al-Ahly in der Stadt Port Said kam es zu den blutigsten Krawallen in der ägyptischen Fußballgeschichte mit – laut dpa – mindestens 71 Toten und 1000 Verletzten, vor allem Al-Ahly-Anhänger. Jetzt fragt man in Ägypten: War das einfach »nur« Fußball-Hooliganismus in seiner brutalsten Ausprägung oder auch dessen Instrumentalisierung für politische Zwecke?

Die Frage war am Tag nach der Katas᠆trophe noch nicht schlüssig zu beantworten. Zahlreiche Merkwürdigkeiten lassen allerdings die Deutung zu, dass das, was sich am Mittwoch in der Hafenstadt Port Said am Nordausgang des Suezkanals zugetragen, nichts zu tun hat mit auch hierzulande nicht unbekannten kriminellen Auswüchsen am Rande der Fußballszenerie. Vor allem gehen Vorwürfe an die sogenannten Sicherheitskräfte. Sie sollen laut Augenzeugen, die ihre Berichte Mittwochnacht ins Internet stellten, die Eskalation der Gewalt durch demonstratives Nichteinschreiten begünstigt haben. Die schlimmsten Totschläger hätten daher nach der Schlacht untertauchen können. Zwar gibt es traditionell heftige Rivalitäten zwischen den ägyptischen Großklubs, besonders gegenüber Al-Ahly. Dieser - der »Nationale« - ist zwar vom Vermögen her das Bayern München Ägyptens, pflegt aber dennoch einen Ruf als Anziehungspunkt der Unterprivilegierten und hat unter ihnen nachgewiesenermaßen mehr Fans als die Rivalen. Im katarischen Fernsehsender Al Dschasira wird ein Al-Ahly-Anhänger mit den Worten wiedergegeben: »Wir waren der erste rein ägyptische Klub während der englischen Kolonialzeit, sind aber unpolitisch und haben sowohl Kommunisten als auch Liberale, Anarchisten oder Islamisten in unseren Reihen. Nur Mubarak-Sympathisanten wird man bei uns nicht finden.«

So behaupten die Al-Ahly-Fans auch von sich, sie seien nicht unwesentlich Träger der Revolte gegen Husni Mubarak gewesen und hätten den Präsidenten mit ihrer Dauerpräsenz auf dem Kairoer Tahrir-Platz vor einem Jahr zum Rücktritt gezwungen. Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, warum gerade Al-Ahly Opfer des Gewaltausbruchs geworden ist. Denn der war unprovoziert. Weder der Verlauf des Spiels noch das Ergebnis - Al-Masry (»der Ägypter«) gewann 3:1 - gaben Anlass zu Unmutsäußerungen.

So vermuten denn auch nicht wenige Ägypter - nimmt man Meinungsveröffentlichungen auf Internet-Plattformen zum Maßstab - dass es sich hier um eine ähnlich gezielte Intrige handelte. Man tippt auf bezahlte Schlägerbanden aus dem Umfeld des gestürzten Präsidenten und verweist auf die plötzlich eskalierenden schweren Straßenschlachten mit der christlichen Minderheit der Kopten im Herbst. Auch die Parteien der Muslimbruderschaft, die zusammen mehr als zwei Drittel des neuen ägyptischen Parlaments repräsentieren, beschuldigten gestern in einer Erklärung »politische Kräfte, die in enger Verbindung zum früheren Regime von Mubarak stünden«, für die Verbrechen im Stadion verantwortlich zu sein.

Der frühere, auch in Deutschland aktive Nationalspieler Hani Ramzi erklärte der »Süddeutschen Zeitung«: »Die Fans sind hier nicht verantwortlich. Das war alles geplant und wäre in jedem Fall passiert, ganz unabhängig vom Spielverlauf. Innerhalb von zwei Minuten waren Tausende Fans mit Messern bewaffnet auf dem Platz. Sie wurden vor dem Spiel nicht kontrolliert, und die Polizei hat nicht eingegriffen. Die Gewalt ist Politik, hundertprozentig ...«

* Aus: neues deutschland, 3. Februar 2012


Militäraufmarsch nach Stadionkatastrophe

Ägypten: Mindestens 74 Tote nach Krawallen. Sicherheitskräfte griffen nicht ein **

Nach den tödlichen Ausschreitungen nach einem Fußballspiel hat die ägyptische Regierung mehrere Verantwortliche entlassen. Wie Regierungschef Kamal Al-Gansuri am Donnerstag mitteilte, wurden der Sicherheitschef von Port Said und die Führung des Fußballverbands ihrer Ämter enthoben, der Gouverneur der Stadt trat zurück.

Nach der Begegnung zwischen Al-Masri und Al-Ahly Kairo in Port Said waren Hunderte Anhänger der Gastgeber auf den Platz gestürmt. Sie warfen Steine und Flaschen auf die Gästefans und schossen mit Feuerwerkskörpern, Panik brach aus. Mindestens 74 Menschen wurde getötet, außerdem gab es um die 250 Verletzte. Nach Angaben von Innenminister Mohammed Ibrahim wurden die meisten der Opfer erdrückt. Rettungskräfte sagten, einige der Getöteten hätten Stichwunden gehabt, andere schwere Kopfverletzungen. Auf der Straße nach Kairo waren Schüsse zu hören. Die Polizei nahm 47 Menschen fest. Am Donnerstag marschierte in Port Said das Militär auf. Die größte Ausfahrtsstraße wurde abgeriegelt, die Regierung ordnete drei Tage Staatstrauer an.

Unmittelbar nach den Ausschreitungen wurden Vorwürfe laut, daß die Sicherheitskräfte nicht rechtzeitig eingegriffen hätten. Im Fernsehen war zu sehen, wie Reihen von Polizisten inmitten des Chaos tatenlos herumstanden und die Jagdszenen auf dem Rasen verfolgten. Die bei der Parlamentswahl siegreichen Muslimbrüder sprachen von »geplanten« Ausschreitungen. Sie seien eine »Botschaft der Anhänger des alten Regimes«.

Viele Ultras von Al-Ahly Kairo hatten sich an den Protesten gegen Hosni Mubarak beteiligt. Das Spiel in Port Said war bereits im Vorfeld von regionalen Zeitungen als »Treffen der Vergeltung« bezeichnet worden. »Noch kann man nur spekulieren. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß die Katastrophe politische Hintgeründe hat, ist sehr groß«, sagte Christian Wolf vom Institut für Politische Wissenschaft an der Uni Erlangen-Nürnberg gegenüber der Nachrichtenagentur sid. (AFP/sid/jW)

** Aus: junge Welt, 3. Februar 2012


Chaos willkommen

Von Roland Etzel ***

Hat die Kaste aus dem Dunstkreis von Hosni Mubarak den Gewaltausbruch in Port Said inszeniert, um Angst und Chaos zu verbreiten? Ein Motiv haben diese Leute auf jeden Fall. Was könnte ihnen Besseres passieren, als dass die Ägypter sich nach der vermeintlich sichereren »guten alten Mubarak-Zeit« zurücksehnen? Aber auch dem derzeit die Macht ausübenden Obersten Militärrat wird nachgesagt, an derlei Legendenbildung interessiert zu sein.

Bis dato gilt offiziell die Zusage der Militärs, Ende Juni die Staatsmacht in zivile Hände abzugeben. Allerdings ließ Feldmarschall Tantawi bereits Ende 2011 streuen, dass er sich den Militärrat auch künftig als eine Art Oberschiedsrichter für Ägypten wünscht. Käme es dazu, würden die unverschämten Privilegien der Generäle in Ägypten wohl weiter unangetastet bleiben. Noch immer beherrschen sie ganze Wirtschaftszweige mit entsprechend sprudelnden Einnahmequellen. Der Gedanke, wie diese zu bewahren sind, kann die Fantasie schon beflügeln.

Und so muss man kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um zu ahnen, dass dem Militärrat die zur Schau gestellte »Unfähigkeit« der momentanen Übergangsordnung nicht ungelegen kommt. Bereits nach den tödlichen Auseinandersetzungen mit Kopten, die wie von Geisterhand geschürt schienen, erscholl anschließend der Ruf nach einem Garanten für »Ruhe und Ordnung«. Noch ein Massaker, und der Feldmarschall wird ihm endlich folgen können.

*** Aus: neues deutschland, 3. Februar 2012 (Kommentar)


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