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Friedensärzte gegen US-Raketenabwehr und EU-Militarisierung

Es war ein großer und wichtiger Kongress

Noch haben wir keine authentische Einschätzung der IPPNW über ihren Kongress, der am Wochenende vom 8. bis 10. Dezember in Berlin stattfand, eine Woche nach dem Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel. So unterschiedlich beide Kongresse konzipiert waren: In den inhaltlichen Aussagen gibt es doch weitgehend Übereinstimmung zwischen der deutschen Sektion der weltweiten Ärztevereinigung zur Verhütung des Atomkriegs und den zahlreichen Friedensbasisinitiativen, die sich jährlich zu ihren "Ratschlägen" in Kassel treffen: Ablehnung des´r Kosovo-Kriegsteilnahme der Bundesregierung, Kritik an der Militarisierung der Europäischen Union, Widerstand gegen die Einrichtung eines US-Raketenabwehrsystems - das waren nur ein paar zentrale Punkte, die in Berlin diskutiert wurden. Soweit politische Prominenz zugegen war (und die IPPNW ist attraktiv genug, dass sich so mancher Politiker einladen und blicken lässt), musste sie sich jede Menge Kritik gefallen lassen.
Im Folgendern dokumentieren wir für's Erste einen Bericht über den IIPNW-Kongress aus der Frankfurter Rundschau.


Bei so viel Frieden kam der Streit fast zu kurz

Kongress der IPPNW-Ärzte in Berlin demonstriert Einigkeit / Debatte über Militarisierung der EU
Von Rolf Paasch (Berlin)


Es war ein überaus friedlicher Abend, mit der die "Deutschen Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung" am Freitag in Berlin ihren Kongress über die "Kultur des Friedens" eröffnet hatten. Die Deutsche Sektion der "International Physicians for the Prevention of Nuclear War" (IPPNW) hatte dem Schriftsteller Stefan Heym ihre Friedensmedaille verliehen. Und der Arzt und Musiker Rolf Verres hatte das Publikum im gefüllten Audimax der Technischen Universität Berlin mit einer musikalischen Phantasie über "Liebe und Hass" und die "Sehnsucht nach dem Frieden" unterhalten.

Und auch am Samstag schienen die Diskussionsforen des dreitägigen IPPNW-Kongresses zunächst zu Veranstaltungen friedlicher Akklamation zu geraten. Kein Widerspruch und nur wenig Differenzierung bei der völlig verurteilenden Bilanz der Kriege in Jugoslawien und Tschetschenien.

Nicht einmal die Frage, ob diese Kriege denn überhaupt etwas gemeinsam hatten, wurde gestellt. Es ging vor allem um Hypothesen der Vermeidbarkeit des Kosovo-Krieges, die Brigadegeneral a. D. Heinz Loquai sachkundig formulierte, oder um Kränkungen durch die Mitglieder der rot-grünen Regierung, die Dieter Bricke von der Petra-Kelly-Stiftung zum Besten gab. Peter Becker von den "Jurist(Inn)en gegen Atomwaffen" forderte den Aufbau "europäischer Streitschlichtungsstrukturen" für den Wettstreit mit dem US-amerikanischen Ansatz zur Konfliktlösung, der von allen Teilnehmern einstimmig - und dies nicht nur auf dem Balkan - angeprangert wurde. Doch Adressaten für solche Kritik und Forderungen waren auf dem Podium nicht präsent. Die Gegner des "Angriffskrieges gegen Jugoslawien" blieben unter sich.

Er habe einen "nachdenklichen Kongress" gewollt, so hatte der für die Organisation zuständige Horst-Eberhard Richter der FR in einem Gespräch erklärt. Und so sehr man eine Streitkultur brauche, müssten manchmal einfach nur die Bedingungen diskutiert werden, unter denen es möglich sei, "aus der militärischen Logik auszusteigen; statt uns wieder zu streiten, oder über Joschka Fischer zu ärgern". Schon bei der Begrüßung der rund 1000 Kongressteilnehmer hatte Richter sein Programm erklärt: "Wir wollen von unten die Fragen stellen, die von oben nicht mehr laut gestellt oder gar unterdrückt werden."

Dass die Streitkultur dann doch nicht zu kurz kam, war das Verdienst des Journalisten Andreas Zumach, der in der nächsten Diskussionsrunde am Samstagvormittag seinen Podiumskollegen vorwarf, bei ihren Vorträgen über die "Neuen Gefahren für den Weltfrieden" die konkrete "Militarisierung der europäischen Außenpolitik" überhaupt nicht erwähnt zu haben. In der Tat hatte der Friedensforscher Egon Bahr von den Gefahren aus dem Internet und durch die Erfolge in der Waffenforschung berichtet, ohne dabei die von der Europäischen Union beschlossenen "Krisenreaktionskräfte" zu erwähnen. Ernst-Otto Czempiel von der "Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung" hatte zugegeben, auch er wisse nicht, wie die Blockaden gegen ein "neues Denken" realpolitisch zu umgehen seien.

Und Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hatte eher anekdotisch von den Eindrücken seiner kürzlichen Asienreise berichtet und sich ohne Widerspruch dem Plädoyer Egon Bahrs für eine "neue Überlebensbewegung" angeschlossen. So hatte man der angeschwächelten Friedensbewegung geschickt eine neue Funktion zugeteilt, ohne dabei politisch konkret zu werden.

Erst Zumachs aus dem Publikum viel beklatschte Kritik der drohenden "Militarisierung Europas" brachte eine spannende Diskussion. Statt die durchaus notwendigen militärischen Zwangsmittel bei einer reformierten UN anzusiedeln, so ließen sich Zumachs Thesen zusammenfassen, reagiere die EU vorschnell und mit den falschen, weil militärischen Mitteln auf eine noch völlig ungeklärte Bedrohungsanalyse.

Damit werde - von den europäischen Institutionen noch nicht kontrolliert - neues Geld für eine Aufrüstung ausgegeben, die das Verhältnis zu Moskau gefährde, mit der man aber das Wettrennen mit den USA am Ende doch nicht gewinnen könne.

Alles falsch, entgegnete ihm darauf der aufgerüttelte CDU-Politiker Weizsäcker: Russland sei keineswegs durch die EU-Einsatzkräfte beunruhigt; statt aufzurüsten, werde in der EU militärisches Personal abgebaut; über die Kosten sei weiter auf nationaler Ebene zu reden; und einen Wettlauf mit den USA beabsichtige überhaupt niemand. "Eine EU-Streitmacht als Schild Europas und nicht als Schwert Amerikas", damit will und kann auch der Sicherheitsexperte Egon Bahr leben.

Das Publikum aber stand mit großer Mehrheit hinter der "produktiv-polemischen" (Weizsäcker) Kritik Zumachs von der überflüssigen Militarisierung Europas. Ja, einigen war schon der ganze Podiumsstreit zu viel. "Wir reden jetzt schon wieder so lange über Kriegsvorbereitung und Krieg", so wollte einer der friedensbewegten Ärzte zu den heimeligen Anfängen des Kongresses zurückkehren. "Anstatt einfach zu sagen, das wollen wir nicht."
Aus: Frankfurter Rundschau, 11. Dezember 2000

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